Kulturpolitischer Bundeskongress: Hehre Worte und billige Taten
In Berlin tagte ein Kulturkongress der Superlative, es ging um Welt, Kultur und Politik, um das Gute für alle. Und zugleich wurde im Kleinen wieder etwas eingespart. Was für ein Missverständnis! Ein Kommentar
Alle, alle, alle waren dabei. Kultur pur und komplett. „Ausgebucht“ verkündete die Webseite der Kulturpolitischen Gesellschaft. Alle wollten sie, alle sollten sie mitreden, wenn geladen wurde unter dem Großbuchstabentitel: „WELT.KULTUR.POLITIK.“ Denn mehr geht eigentlich wirklich nicht.
Vom 15. bis 16. Juni also wurde Berlin auf dem "9. kulturpolitischen Bundeskongress" debattiert, der Untertitel der Mammut-Versammlung verhieß: „Europa fördert Kultur“. Alles, alles, alles gehört dazu. Visionäre Großprojekte, neue und alte Museen, etabliertes und exzentrisches Theater, wilde und zahme Opern und Orchester, und was immer da noch ist an Architektur und Denkmälern, Parks und Schlössern und Ausstellungen und Events und Ateliers und Literatur und Landschaftsplanung und, und, und.
Eingeladen hatten die Kulturpolitische Gesellschaft, die Bundeszentrale für politische Bildung, der Deutsche Städtetag, das Goethe-Institut, das Institut für Auslandsbeziehungen sowie Monika Grütters, Bundesbeauftragte für Kultur und Medien. Sigmar Gabriel, im Programm als „Bundesminister des Auswärtigen“ benannt, sprach zum Thema „Krise, Ordnung, Europa – Deutsche Kulturpolitik in globaler Verantwortung“. Mitreden durften auch etablierte Provokateure der Kulturszene wie der Theatermacher Milo Rau oder ein Aktivist vom „Zentrum für politische Schönheit“. Pankaj Mishra, der anglo-indische, aufsteigende Star der Globalisierungskritik trug vor über „Neue kulturelle Weltsichten“. Um die Zeitenwende sollte es gehen, um die gigantische, überwältigende Verflechtung der Welt und was sie bedeutet für Kultur, Kulturpolitik.
Ohne Kultur, was wäre der Mensch? Ein Maulwurf?
Kiloweise werden Visitenkarten die Hände gewechselt haben, als hier, wie es auf dem Dachfries der Alten Oper in Frankfurt steht, „Dem Wahren, Schönen, Guten“ gehuldigt wurde, anstatt den schönen, guten Waren. Dass sich so viele im Namen der Zivilisation versammeln hat immer etwas Anrührendes, ganz gleich ob bei solchen Ereignissen ein Hauch von Robert Musils „Parallelaktion“ im „Mann ohne Eigenschaften“ mitschwingen mag.
Freilich, Kultur - was wäre die Gattung ohne sie? Vermutlich eine Horde blinder Maulwürfe, nach Bodenschätzen wühlend und Kriege führend. In der kulturpolitischen Gesellschaft, zu der das Institut für Kulturpolitik gehört, weiß man das. Diese „bundesweite Vereinigung kulturpolitisch interessierter und engagierter Menschen“, umfasst 1400 Einzel- und korporative Mitglieder, die in Politik, Praxis, Wissenschaft und Verwaltung mit Kultur zu tun haben. Ihr Grundsatzprogramm verpflichtet sie auf „eine öffentlich verantwortete und auf allen institutionellen Ebenen aktiv gestaltende Kulturpolitik, die Individualität und soziale Verantwortung, Freiheit und Menschenwürde für alle Menschen einfordert.“
Auf allen institutionellen Ebenen! Das hört sich besonders gut an. An großen Tagen wie diesen sollte man sich in den höheren Sphären daran erinnern, wo Kultur beginnt: Bei der Chance, die Grundlagen zu erwerben, auf der untersten Sphäre, Ebene eins. Im Kuratorium des Instituts für Kulturpolitik sitzt der musikbegeisterten Sohn eines Bäckers aus Bochum. Er heißt Norbert Lammert, wäre gern Dirigent geworden und ist Präsident des Deutschen Bundestages. Musik in der Kindheit ist ihm so wichtig, dass er 2016 achtzig Instrumente für das Projekt „JeKi“ stiftete.
Raubbau am Musikunterricht
"JeKi" steht für „Jedem Kind ein Instrument“, gegründet wurde das Projekt 2003, in Bochum. Die kulturpolitische Idee: Ein Instrument spielen zu lernen, das soll zu Schule gehören, wie Lesen und Schreiben. Geldgeber sind unter anderem Nordrhein-Westfalen, die Kulturstiftung des Bundes und einzelne Mäzene. An 641 Grundschulen lernten Kinder, vor allem aus bildungsfernen Milieus, Oboe, Klarinette oder Trompete, Klavier, Cello oder Geige. Sie probieren Instrumente aus und entscheiden sich für eines, der Unterrichtig kostet, je nach Lage der Eltern, wenig oder gar nichts. Obwohl der Erfolg sensationell ist, wurde das Programm jetzt gekürzt, gestaucht, verflacht und „JeKi“ umbenannt in „JeKits“ („Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen“). Der Etat sank auf unter 11 Millionen Euro, die verschuldeten Kommunen sollen nun die Kosten weiter tragen - was sie nicht können.
Musiklehrerinnen und -lehrer, ohnehin entsetzt über den Raubbau an ihrem Fach an Grundschulen, beklagen das Kaputtschrumpfen von „JeKi“. Die Nachricht, dass den Kindern die Musikinstrumente aus der Hand geschlagen werden, kam just als in Berlin der große Kulturkongress tagte.