Kulturpolitik: Der Westen existiert nicht
Berliner Kongress der Kulturpolitischen Gesellschaft: Pankaj Mishra fordert eine "intellektuelle Ostpolitik"
Im vergangenen Oktober, als eine gewaltige Rechtsdrift Frankreich vom europäischen Kurs abzubringen drohte, veröffentlichte der Philosoph François Jullien, der in Paris einen Lehrstuhl für Andersheit innehat, eine Kampfschrift mit dem Titel „Il n’y a pas d’identité culturelle“ (im Herbst auf Deutsch bei Suhrkamp). An die Stelle der Identität, erklärte er, wolle er lieber den Begriff der Ressourcen setzen – und an die Stelle der alles trennenden Differenz den der bloßen Abweichung. Was als Angriff auf ein national geprägtes, essenzialistisches Kulturverständnis gedacht war, ließ aber auch linke Gewissheiten nicht unversehrt. Denn wenn es Werte nicht einfach gibt, sondern sie performativ hervorgebracht, aktualisiert und abgewandelt werden, steht auch das Prinzip ihrer universalen Gültigkeit auf dem Spiel. Jullien betrachtet Kulturen als Werkzeugkiste, deren Elemente sich wechselseitig aufschließen. Dabei kann man durchaus auf universale Züge stoßen – nur dass sie in ihren Kontexten jeweils etwas anderes bedeuten.
Wo der Sinologe Jullien, der das chinesische Denken für die westliche Philosophie fruchtbar zu machen versucht hat, abstrakt argumentiert, geht der in London lebende Inder Pankaj Mishra sehr viel konkreter vor. Zum Auftakt des 9. Bundeskongresses der Kulturpolitischen Gesellschaft in der Katholischen Akademie Berlin gab er einen Vorgeschmack auf sein dieser Tage erscheinendes Buch „Das Zeitalter des Zorns“ (S. Fischer). Mishra, der vor vier Jahren für seinen großen Essay „Aus den Ruinen des Empires – Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung erhielt, schreibt darin mit neuer Verve gegen die binäre Logik von westlicher und nichtwestlicher Kultur an.
„Der lange Weg nach Westen“, den der Historiker Heinrich August Winkler in seinem gleichnamigen Werk Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert nachwies, ist für Mishra abgeschritten. An seinem bitteren Ende müsse der Westen feststellen, dass er selbst nie existiert habe. Man könne sich zwar über die autoritären Entwicklungen in der Türkei und in Russland empören, ihr Gift sei aber spätestens mit George W. Bush ins Herz des sogenannten Westens eingesickert. Gut vorbereitet von der Achse eines libertären Individualismus, auf dessen englischer Seite Maggie Thatcher einst behaupten durfte, so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, und auf dessen anderer Seite Ronald Reagan sagte, dass Staatswesen generell keine Lösung seien, wanke die angloamerikanische Ordnung mit einem „Verrückten im Weißen Haus“ ihrem Ende entgegen. Chinas Aufstieg und seine Vernetzung mit Ökonomien in aller Welt mache eine Revision überkommener Erkenntnislehren erforderlich. Wie zur Bestätigung lag im Foyer die „Monde diplomatique“ aus. Sie eröffnet ihre jüngste Ausgabe mit einem schwindelerregenden Ausblick auf „Die Neue Seidenstraße“.
Thomas Mann in asiatischer Variante
Von einer antiwestlichen Haltung will Mishra dabei nichts wissen. Um die Import- und Exportwege menschheitlicher Ideen und Ressourcen nachzuvollziehen, sei indes eine Art „intellektueller Ostpolitik“ nötig. Man müsse sehen, wie die Ideologie der Nazis bei nationalistischen Hindus auf Begeisterung gestoßen sei. Es lohne, Thomas Manns Kritik am Materialismus in ihren asiatischen Varianten kennenzulernen, und man solle ruhig staunen, dass die Anfänge des deutschen Sozialstaatsdenkens bis zu japanischen Wirtschaftsdenkern vorgedrungen seien. Mehr als im „Empire“-Buch richtet Mishra sein Augenmerk diesmal jedoch auf die sozialen Verlierer und die Nachzügler.
„Kulturpolitik und Globalisierung“: In der Eröffnungsrede von Kulturstaatsministerin Monika Grütters zum Kongressthema klang das alles noch zaghafter. In ihrem Plädoyer für eine „Kulturpolitik der kulturellen Verständigung“ sprach sie sich gegen eine Leitkultur, aber für Leitmotive aus; gegen strikte Abgrenzung, aber für Grenzen, die interkulturelle Kommunikation erst möglich machen.
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