Jubiläum für US-Superhelden: Hausbesuch bei Superman zum 80. Geburtstag
Der Allmächtige: Vor 80 Jahren hatte Superman seinen ersten Auftritt. Ein Hausbesuch an jenem Ort, wo alles begann.
Durch diese Gasse da unten sei der Junge immer herübergekommen. Jefferson Gray zieht den Vorhang des Dachgeschossfensters zur Seite und zeigt auf die Garage hinter seinem Häuschen. Dort verlief in den 30er Jahren ein Trampelpfad. Den nahm Joe Shuster meist, wenn er seinen Schulfreund Jerry Siegel in dessen Elternhaus besuchte. Die beiden waren in der neunten Klasse der Glenwood High School zu unzertrennlichen Weggefährten geworden. Sie verzogen sich dann in das Dachbodenzimmer, in dem der alte Jefferson Gray jetzt steht und auf eine Stelle deutet. An der stand der Schreibtisch.
Unten, vor der Veranda, prangt eine Tafel an Grays Haus mit der grau-weißen Holzfassade. „Sie gaben uns etwas, an das wir glauben können“, steht darauf.
Sie – das waren Joe, der Künstler und Zeichner, und Jerry, der Träumer und Schreiber. Unter dem Dach ersonnen die beiden ferne Planeten und Wesen mit unglaublichen Kräften, die für das Gute kämpften und nebenbei schöne Frauen retteten. Es muss um das Jahr 1933 gewesen sein, da entwickelten sie eine besonders verwegene Geschichte, deren Folgen größer waren, als es damals irgendjemand ahnen konnte. Ihrer Hauptfigur zeichnete Joe später ein großes S auf die Brust. S für Superman.
Ungeahnte Erfolge, bitterste Enttäuschungen
Als Jefferson Gray und seine Frau Hattie das Haus in der Kimberly Avenue 10622, Cleveland, Ohio, vor 30 Jahren kauften, hatten sie keine Ahnung von dessen Vergangenheit. Vier Kinder zogen die Grays groß. Dass es zwei andere Kinder waren, die in denselben Wänden einen Mythos erschaffen hatten, wurde ihnen erst klar, als ihnen der Bürgermeister von Cleveland einen Brief schrieb. Ihr Haus, so stand es in dem Schreiben, solle ab sofort ein Wahrzeichen der Stadt sein. Da verstanden sie, wieso immer wieder wildfremde Menschen auf der Straße angehalten und Fotos von ihrem Besitz gemacht hatten.
Seit einigen Jahren dürfte es wieder mehr Neugierige geben, die sich ansehen wollen, wo alles seinen Anfang nahm. Dank Kinofilmen wie „Batman v Superman“ und zuvor „Man of Steel“. Für letzteren kehrten die Produzenten ebenfalls zu den Ursprüngen zurück. Zu einem Schuljungen, der sich einsam fühlt. Zu seiner Mutter sagt er: „Die Welt ist so groß, Mum.“ Und als Antwort bekommt er den guten Rat zu hören: „Dann mach sie dir kleiner.“ Der also einen Stift nimmt und sie sich kleiner macht, indem er Geschichten erfindet, wie Shuster und Siegel es taten. Der sich ein rotes Tischtuch von der Wäscheleine zieht und sich als Umhang überwirft – wir wissen, wie die Geschichte weitergeht. Am 18. April 2018 jährt sich die Veröffentlichung des ersten Comic-Hefts mit Superman auf dem Titel zum 80. Mal.
Shuster und Siegel bescherte ihre Erfindung erst ungeahnte Erfolge und später auch bittere Enttäuschungen. Der unverwundbare Held, dessen frühe Abenteuer Jerry Siegel in seine kleine Schreibmaschine tippte und dem Joe Shuster mit dem Bleistift ein Gesicht und ein unverwechselbares Aussehen gab, war die Keimzelle nicht nur des neuen Mediums Comic-Heft, sondern einer globalen Unterhaltungsindustrie. Bis heute wurden mit Comics, Büchern, Fernsehserien, Videospielen und Kinofilmen Milliarden von Dollar umgesetzt.
Die Grays kauften ihr Haus für 23 000 Dollar. Sie waren aus den Südstaaten an den Eriesee gezogen, wo es damals noch viele Jobs für Stahlarbeiter wie Jefferson gab und eben dieses erschwingliche Holzhaus aus dem Jahr 1918. Es liegt in einem armen Viertel, in dem einst jüdische Einwanderer aus Osteuropa wie die Siegels und Shusters ihren Anteil am amerikanischen Traum zu erreichen versuchten. Irgendwann zogen die Juden weiter, und seit den 40er Jahren leben hauptsächlich Schwarze mit geringem Einkommen in der Gegend. Besuchern wird davon abgeraten, nach Einbruch der Dunkelheit alleine spazieren zu gehen.
„Aufregend war das“, sagt Jefferson Gray, als der Brief des Bürgermeisters kam. Er hatte wie viele Amerikaner als Kind unter anderem mit Superman-Heften Lesen gelernt. Nun war er unversehens zum Wächter dieses Kulturerbes geworden. Wann immer Fremde an die Tür klopfen, die sich für Siegel und Shuster interessieren, geben er und seine Frau eine Tour durch ihr Haus. Wie viele sie in den vergangenen Jahren empfangen haben? Hunderte, bestimmt.
Ein Fan hat seiner Freundin im Wohnzimmer der Grays einen Heiratsantrag gemacht. Er riss sich das Hemd auf, und darunter kam der Anzug mit großem S zum Vorschein.
„Hier kam ihm die Idee“
Das S, immer wieder das rote S. Am Gartenzaun prangt auch eins und erinnert daran, was hier seinen Anfang nahm. Die Gedenktafel vor dem Haus wurde vor vier Jahren angebracht. Die kleine, aber engagierte Siegel-und-Shuster-Gesellschaft hatte Geld gesammelt, 150 000 Dollar, um das heruntergekommene Haus renovieren zu lassen, wofür die Grays nicht die Mittel hatten. Hinter der Initiative stehen Professoren, Journalisten, Autoren, Politiker und Angehörige von Siegel, der 1996, und Shuster, der 1992 starb.
Im Gästebuch der Grays finden sich Namen aus aller Welt. Das hat mit dem Dachboden und auch mit jenem Zimmer im zweiten Stock zu tun, das heute als Schlafzimmer der Eheleute Gray dient. Über dicke Teppiche und eine Treppe, die unter dem Gewicht knarzend nachgibt, geht es in den kleinen Raum, der von einem riesigen Doppelbett beinahe vollends ausgefüllt wird. In demselben Zehn-Quadratmeter-Zimmer schliefen einst Jerry Siegel und sein Bruder Leo. Es ist mit weinroten Vorhängen abgedunkelt, an den Wänden hängen Familienfotos und Reproduktionen von Stillleben.
"Hier kam ihm die Idee", sagt Jefferson Gray. Er zeigt auf das Bett.
In einer heißen Sommernacht des Juni 1934 wacht der damals 19-jährige Jerry auf. So hat es Siegel später immer wieder erzählt. Ihm schwirren viele Ideen durch den Kopf, die er und Joe vorher zusammen ausgeheckt haben und die wiederum von den Science-Fiction-Geschichten, Krimis und Zeitungscomics inspiriert sind, die die beiden damals verschlingen. In dieser Nacht fügt sich das in Jerrys Kopf zu etwas Neuem zusammen. Er springt aus dem Bett, schreibt seine Idee auf, dann legt er sich wieder hin. Zwei Stunden später ist er abermals wach, neue Ideen drängen aufs Papier. Zwei Stunden später noch einmal. Am Morgen schnappt sich Jerry Siegel die Notizen der Nacht und rennt, ohne zu frühstücken, zum Haus von Joe. Der setzt sich sogleich an seinen Schreibtisch und zeichnet los. So findet an diesem Tag der Superheld den Weg in die Welt.
Und was für eine Welt das war. Gerade hatten die Amerikaner eine Wirtschaftskrise mit Not überstanden, Arbeitslosigkeit und Armut machten den meisten Menschen das Leben schwer, auch den Familien von Joe und Jerry, die im Winter oft nicht einmal genug Kohlen zum Heizen besaßen. Angesichts des Vormarschs der Nazis und der schrecklichen Nachrichten aus Stalins Russland stellten sich die USA auf neue Erschütterungen ein. Die Welt brauchte dringend einen Beschützer. Eine Lichtgestalt, die nicht nur von außerirdischer Herkunft war und übermenschliche Kräfte besaß, sondern auch menschliche Dramen erlebte. Die ergaben sich vor allem aus seiner Doppelidentität. Als Clark Kent suchte er beharrlich zu verschleiern, dass sein wahrer Name Kal-El und er auf dem Planeten Krypton geboren worden war.
„Da kamen einfach die richtigen chemischen Zutaten zusammen“, sagte Jerry Siegel später auf die Frage, was die Geschichte Supermans aus der Masse ähnlicher Heldensagen herausragen ließ. Was prädestinierte zwei Jungs wie Joe und Jerry dafür, die unerfüllten Sehnsüchte so vieler Menschen anzusprechen?
Sie kamen aus einfachen Verhältnissen. Beider Väter waren Schneider aus Litauen. Die Söhne waren schüchtern, klein geraten, und beide trugen eine Brille. In der Schule wurden sie gehänselt, für Mädchen waren sie unsichtbar. Superman bot ihnen einen Ausweg. Durch ihn glorifizierten sie, was sie selbst waren: Außenseiter.
„Er wird ein Außenseiter sein, sie werden ihn töten.“
„Wie sollten sie? Er wird ein Gott für sie sein.“
Kurz nach dem Tod des Vaters schrieb er die erste Superman-Story
Eine gewisse Anerkennung konnten sich Joe und Jerry schon als Mitarbeiter der Schulzeitung „The Glenville Torch“ verschaffen. Alte Ausgaben gibt es noch, in Pappkartons verwahrt. Eine freundliche Dame der „Western Reserve Historical Society“ hilft, sie zu suchen. Dann stehen die Kisten auf einem der Lesetische des Regionalmuseums, das sich im Universitätsviertel befindet. „Das ist, was wir haben“, sagt sie und blickt auf eine Weise, die sagt: Da soll was drin sein?
Es kommen zum Vorschein: Stapel vergilbten Papiers, darunter Volkszählungsbögen, die die Familien von Joe und Jerry auflisten. Eine Football-Fahne der später abgerissenen Glenville High School. Sowie frühe Spuren des Autorenpaars.
Auch die Archivarin sieht das zum ersten Mal. Ein von Joe gezeichneter Cartoon von 1932 schildert eine Thanksgiving-Szene, andere behandeln den Schulalltag oder Traumreisen in ferne Länder. Und Jerry ließ sich in Kolumnen über das Schultheater und Tratsch unter Schülern aus oder schrieb Liebesgedichte. Eines handelt davon, wie ein Junge sich nach einem Mädchen verzehrt, das keine Ahnung hat, dass es ihn überhaupt gibt.
Als Schlüsselerlebnis auf dem Weg zum Superman-Mythos gilt ein Überfall auf Jerrys Vater im Sommer 1932. Der hatte seinen Schneiderladen in einem besonders armen und rauen Viertel der Stadt. Eines Tages erhielt er Besuch von drei Männern. Sie betraten sein Geschäft, nahmen sich einen Anzug und wandten sich zum Gehen. Jerrys Vater stellte sich ihnen in den Weg, es kam es zu einem Gerangel – und Siegel senior erlitt eine Herzattacke. Das hat der Clevelander Autor Brad Ricca für sein neues Buch „Super Boys“ recherchiert und damit den von anderen Autoren gepflegen Mythos widerlegt, Siegel sei erschossen worden.
Kurz nach dem Tod des Vaters schrieb Jerry seine erste Superman-Geschichte. Da war die Hauptfigur noch ein böser Charakter, der seine übernatürlichen Kräfte missbraucht, unter anderem, indem er einen Laden ausraubt. Etwa ein Jahr später, so die von Jerry Siegel später kolportierte Legende, erscheint ihm dann in jener schlaflosen Nacht der Superman, wie die Welt ihn kennenlernen sollte: als unbesiegbarer Kämpfer für das Gute.
Nachdem Jerry und Joe 1934 ihre Superman-Geschichte zu Papier gebracht hatten, sollte es noch vier Jahre dauern, bis die Welt sie zu sehen bekam. Erst als der Verleger Malcom Wheeler-Nicholson die Idee für ein neuartiges Comic-Heft namens „Action Comics“ hatte, sahen Siegel und Shuster ihre Chance gekommen: Für 130 Dollar – was heute weniger als 2000 Euro entspricht – verkauften sie die Rechte an Superman an den Unternehmer, dessen Verlag National Allied Publications später unter dem Namen DC Comics berühmt werden sollte und seit gut 40 Jahren zum Unterhaltungskonzern Warner Bros. gehört.
Am 18. April 1938 erschien das Heft mit Superman auf dem Titel. Es schlug ein wie eine Bombe. Die Nachfrage nach dieser neuen Unterhaltungsform – bis dahin kannte man Comics fast nur als Zeitungs-Strips und nicht als eigenständiges Medium – war enorm. In kurzer Zeit erreichten die Hefte Millionenauflagen, auf „Action Comics“ folgte ein Heft, das Superman auch im Titel trug, Zeitungen verlangten nach täglichen Strips mit dem neuen Helden, Radioshows und Werbeartikel mit Superman-Aufdruck trugen zum Ruhm des aus dem All auf die Erde gefallenen Menschenretters bei.
Als Siegel und Shuster realisierten, was sie da aus der Hand gegeben hatte, war es zu spät.
Bis heute wird um Recht und Ehre gestritten
Die Autoren bekamen zwar immer noch ein ansehnliches Gehalt für die Superman-Strips und Comic-Hefte, die sie ein paar Jahre weiter produzierten und die dann nach und nach von anderen fortgesetzt wurden. Aber die 130 Dollar entsprachen dem wahren Wert ihrer Idee in etwa so wie jene 24 Dollar, mit denen die Indianer bezahlt wurden, als man ihnen die Insel Manhattan abkaufte.
Schon kurz nach dem Durchbruch mit Superman machten Siegel und Shuster ihrer Verbitterung in Interviews Luft, der Verlag habe sie über den Tisch gezogen. Es war der Auftakt einer endlosen Reihe von Streitereien und Prozessen um mehr Geld und Anerkennung, von denen die Superman-Väter einige gewannen, aber ebenso viele verloren. Bis heute werden die juristischen Auseinandersetzungen von ihren Erben weitergeführt.
Es müssen bittere Jahrzehnte für Joe und Jerry gewesen sein, zumal sie sich im Laufe der Jahre zerstritten. Sie hielten sich mit anonymen Auftragsarbeiten und Gelegenheitsjobs bis ins hohe Rentenalter über Wasser. Erst in den Jahren vor ihrem Tod fanden sie abermals zusammen.
Es gibt in Cleveland ein Jüdisches Museum. Eine Glasvitrine mit Fotos und Zeichnungen erinnert darin an die Erfindung des neuen Allmächtigen. Doch niemand in der Stadt nimmt seine Aufgabe als Hüter des Schatzes mittlerweile so ernst wie Jefferson Gray. Er hat das Dachbodenzimmer als privates Superman-Museum ausstaffiert. Auf Flohmärkten und in Ramschläden sucht er nach allem, auf dem Superman verewigt wurde: Metalldosen für Pausenbrötchen, Schulranzen, Kaffeetassen, Plastikfiguren, T-Shirts, Schlafanzüge, Poster, Sparbüchsen.
Dann ist der Rundgang beendet. Die Grays sind wieder im Wohnzimmer angekommen. Eigentlich wäre es jetzt Zeit zu gehen. Aber die Grays kennen diesen Moment, viele ihrer Besucher zögern ihn hinaus. Und sie sind zuvorkommende Gastgeber. So ziehen sie jetzt ein Fotoalbum mit Bildern von Verwandten und Besuchern hervor. Ihr dreijähriger Enkel Christopher ist besonders oft zu sehen. Auf den meisten Fotos trägt er Kleidung, die das große S ziert.
Hinweis: Dieser Artikel wurde 2013 erstmals im Tagesspiegel veröffentlicht und nun aus aktuellem Anlass leicht überarbeitet neu publiziert.
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