80 Jahre Superman: Der Stadtwächter
Seit 80 Jahren rettet Superman Metropolis und seine Bewohner. Wo liegt diese Stadt eigentlich? Und wer hat sie erbaut?
Eine gigantische Pranke hat die Stadt gepackt. Sie reißt sie mit einem Griff aus ihren Grundfesten. Hochhäuser stürzen ein. Gebäudeteile rutschen zwischen monströsen Fingern hindurch. Rauchschwaden steigen auf. Doch in wirrem Flug hat sich ein Bewohner der Stadt aus den Trümmern gerettet. Er trägt einen himmelblauen Anzug. Sein Umhang mit einem „S“ darauf flattert im Wind, die Muskeln hat er kampfesbereit gespannt. Mit gestreckter Faust schießt er auf den riesenhaften Bösewicht zu, der die Stadt an sich gerissen hat. In großen Lettern steht über allem die Frage: „Wer ist der Mann, der Metropolis ermordete?“
Diese Szene ist auf dem Titel des Superman-Heftes Nummer 271 vom Januar 1974 zu sehen. In diesem einen Bild beschreibt sie die ewige Mission des blau-rot-gelb kostümierten Fliegers: Die amerikanischste aller Städte, Metropolis, ist bedroht – nur der amerikanischste aller Helden kann sie retten. Also stürzt Superman sich wie schon tausendmal zuvor in die Schlacht, um seine Heimat zu verteidigen und seinen Lebenszweck zu erfüllen. Wie ein roter Faden zieht sich die Rettung von Metropolis und ihrer Bewohner vor irdischen Bösewichtern und kosmischen Katastrophen durch das Superman-Werk.
Manhattan, Toronto und Cleveland als Vorbilder
Das Motiv tauchte schon beim ersten Auftritt Supermans in einem Comic-Heft 1938 auf, „Action Comics“ Nummer 1, das vor genau 80 Jahren an die amerikanischen Kioske kam. Und auch für die zahlreichen Kinofilme, die den Mythos wieder und wieder belebten, war es der Motor der Geschichte. Tatsächlich verbindet den Helden und seine Heimat eine wechselseitige Abhängigkeit: Ohne Superman wäre die Stadt schutzlos, und ohne Metropolis wäre Superman arbeitslos.
Denn nur hier, wo die Gefahr massiv und die Zahl der Gefährdeten groß ist, kann er sich als tausendfacher Schutzengel bewähren und monumentale Taten vollbringen. Die Hochhäuser und die Menschenmassen der Großstadt reflektieren dabei die Omnipotenz desjenigen, der sich vor ihnen beweist.
Als der Zeichner Joe Shuster und der Autor Jerry Siegel vor 80 Jahren die Figur Superman erfanden, war es für sie selbstverständlich, dass dessen Abenteuer in einer Großstadt spielen mussten. Die beiden waren Mitte zwanzig und stammten selbst aus rasant wachsenden Städten, die durch die ersten Wolkenkratzer geprägt wurden. Shuster war in der kanadischen Wirtschaftsmetropole Toronto aufgewachsen, die zu der Zeit einen Bauboom erlebte. „All die Gebäude, die ich als Junge in Toronto sah, brachte ich später als Metropolis aufs Papier“, erzählte er kurz vor seinem Tod 1992.
Mit zwölf zog Shuster dann mit seiner Familie nach Cleveland, der ersten Stadt Nordamerikas mit öffentlicher Stromversorgung, elektrischen Laternen und Straßenbahnen. Cleveland galt damals als Modellstadt – so wie später auch Metropolis, das in einem Superman-Heft so beschrieben wird: „Wer einen Blick ins Morgen werfen will, der muss nur nach Metropolis kommen.“
„Eine Generation, die schnell erwachsen werden musste“
Mit seinem Schulfreund Jerry ging Joe oft ins Kino. Irgendwann sahen sie wohl auch Fritz Langs „Metropolis“ von 1927. Die Bildsprache sowie die ultramoderne Großstadtvision des Films schlugen sich im Werk der beiden nieder, was schon die Namensgleichheit nahe legt. Allerdings weist der von Shuster und Siegel für ihre Fantasiestadt gewählte Name über Lang hinaus. Im Englischen steht Metropolis allgemein für: Weltstadt.
Als größtes Vorbild diente ihnen neben der eigenen Heimatstadt jener Ort, von dem sich auch alle späteren Superman-Zeichner inspirieren ließen: Manhattan, das dynamischste Viertel New Yorks. Es reflektierte die atemlose Zeit und die Hoffnung des Aufbruchs jener Jahre ebenso wie die Sorgen und materiellen Nöte, die den Alltag auch der Familien von Shuster und Siegel prägten.
„Sie gehörten einer Generation an, die sehr schnell erwachsen werden musste“, schreibt der Autor Gerard Jones in seinem Buch „Men of Tomorrow“ über jene Jungen, die während der großen Wirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs aufwuchsen. „Zugleich waren ihre Gefühle für immer in jenem jugendlichen Stadium gefangen.“ Die Folge waren Fantasien, die dunkelsten Zynismus und Gewalt mit der kindlichen Liebe für Abenteuergeschichten verbanden. Vielleicht spielte es dabei auch eine Rolle, dass Siegels Vater in seinem Laden bei einem Raubüberfall starb, als der Junge vierzehn war.
Dass Metropolis nicht Geburtsort und dennoch Heimat für Superman ist, spiegelt eine weitere existentielle Erfahrung seiner Erfinder wider. Beide stammen aus jüdischen Einwandererfamilien, die vor der Geburt der Kinder nach Amerika gekommen waren. So wie Superman die Zerstörung seiner alten Heimat, des Planeten Krypton, nicht verhindern konnte und nun sein neues Zuhause umso entschlossener beschützt, so adoptierten auch die Familien Shusters und Siegels die USA als neue Heimat.
Hochhäuser schaffen die richtige Perspektive
Seit ihren Anfängen hat Metropolis alle Wandlungen durchgemacht, die auch die realen Städte erlebten. Die Hochhäuser wuchsen in den Himmel, Stahl und Glas lösten die Steinfassaden ab, zentrale Gebäude wie der Zeitungsturm des „Daily Planet“ durchliefen architektonische Wechsel, von Art-Deco bis zur Sachlichkeit im Stile Mies van der Rohes. Auch das Straßenbild wurde multikultureller. Schwarze sah man in den ersten Jahrzehnten so gut wie nie in Metropolis. Doch seit den Siebzigerjahren gehören sie dank der US-Bürgerrechtsbewegung auch hier zum Alltag.
Auch andere gesellschaftliche Entwicklungen werden reflektiert. So muss Superman sich in den späten Dreißigerjahren noch mit einem Lynchmob auseinander setzen, der einen Gangster aufknüpfen will. In den Siebzigerjahren beteiligt sich sein Alter Ego Clark Kent dann als solidarischer Kollege an einem Streik der Journalisten-Gewerkschaft.
Für die erzählerische Dramaturgie der Superman-Abenteuer ist die Großstadt als Arena allemal unverzichtbar. Szenen wie die aus dem Kinofilm von 1978, in der der Held seine geliebte Lois Lane rettet, die aus einem Hubschrauber herauszufallen droht, der über die Dachkante eines Wolkenkratzers gerutscht ist, sind eben nur in einer Großstadt denkbar.
Vom ästhetischen Standpunkt ist diese Kulisse ohnehin nicht zu schlagen, befindet die Londoner Architektin Julia Arneth, die das Thema in ihrer Diplomarbeit behandelt hat: „Die scheinbar endlosen Hochhäuser erlauben ungemein dynamische Perspektiven. Die große Dichte der Gebäude zueinander lässt Bildausschnitte zu, die mit stürzenden Linien arbeiten und dadurch Dynamik und Bewegung ausdrücken können, wie es in der Darstellung einer niedrigeren Bebauung nur schwer möglich wäre.“ In den ersten Superman-Heften, als der Held noch nicht fliegen konnte, hatten die Hochhäuser zusätzlich einen praktischen Zweck: Von Dach zu Dach hüpfend konnte er sich so schnell durch die Stadt bewegen, dass man meinte, er flöge.
Die Großstadt als Aktionsrahmen benötigen auch fast alle anderen amerikanischen Superhelden des 20. Jahrhunderts. Allerdings hat bei jedem die Stadt eine andere Bedeutung. Für Batman beispielsweise ist Gotham City nicht die schützenswerten Heimat, die von außen angegriffen wird, sondern Brutstätte von Hass und Kriminalität, ein kranker Organismus, dem das Virus mit Gewalt ausgetrieben werden muss. Diese Tradition setzen zeitgenössische Comic-Schöpfungen fort. In Frank Millers kürzlich verfilmtem Comic „Sin City“ produziert die Stadt der Sünde immer neue Schrecklichkeiten, mit denen sich Millers Figuren herumschlagen müssen.
Clark Kents Coming Out
Im Grunde sind Superheldengeschichten nichts anderes als die Märchen des 20. Jahrhunderts. So wie man Hänsel und Gretel ohne Wald und Hexenhaus nicht erzählen kann und es kein Dornröschen ohne Schloss gäbe, so wären auch die amerikanischen Superhelden ohne die Großstadt eines bestimmenden Elements ihrer Identität beraubt.
Doch man kann Supermans persönliches Verhältnis zu Metropolis auch als die Geschichte eines Coming Out lesen. Die Stadt steht dabei für Selbstfindung, Bewährung und Befreiung. Nachdem seine leiblichen Eltern das Baby Kal-El vom sterbenden Planeten Krypton auf die Erde schicken, landet der spätere Superman bei Pflegeeltern auf dem Lande. In der Kleinstadt mit dem alles sagenden Namen Smallville wächst er als Clark Kent auf. Er spürt seine ungewöhnlichen Kräfte, doch er weiß nichts Sinnvolles mit ihnen anzufangen.
Erst als er nach Metropolis zieht, kann er sein wahres Ich ausleben. Dennoch kommt Superman auch in der Großstadt nicht ganz aus sich heraus. Seit 80 Jahren verharrt er in der schizophrenen Doppelexistenz als Superheld und linkischer Reporter. Auch dies ist für ihn nur in der Großstadt möglich. Wo sonst könnte er sich so schnell vom drögen Durchschnittsbürger zum fliegenden Helden verwandeln, wenn nicht allerorten Fahrstühle, Telefonzellen und dunkle Gassen den Raum für die Transformation böten?
Auch wenn Metropolis nur ein Fantasie-Ort ist, so haben die zahllosen Zeichner, Geschichtenerzähler und Regisseure, die sich nach Siegel und Shuster der Geschichte annahmen, die Stadt weiter entwickelt und den jeweiligen Zeitläuften angepasst. Verbindliche Bauvorschriften gibt es allerdings bis heute nicht, sagen Steffen Volkmer und Thorsten Kleinheinz vom Panini-Verlag, der die Superman-Comics ins Deutsche überträgt. „Die Grenzen sind nicht festgelegt, jeder Autor und Zeichner kann die Architektur der Handlung anpassen, solange er in einem allgemein definierten Rahmen bleibt.“ Regisseur Bryan Singer zum Beispiel hat für seinen Film „Superman Returns“ viele Stile gemischt, um Bezüge zu früheren Epochen der Superman-Geschichte herzustellen.
Zu der Retro-Ästhetik passt, dass auch im zahlreichen neueren Inkarnationen von Metropolis eines der wichtigsten Gebäude der Art-Deco-Turm des „Daily Planet“ ist – so als ob Zeitungen in den Großstädten von heute noch die gleiche zentrale Funktion besäßen wie in den Dreißigerjahren. So konserviert Superman ein einst modernes, inzwischen aber leicht angestaubtes Großstadtbild.
Unzerstörbar ist die Heldenstadt übrigens nicht. Mehr als einmal wurde Metropolis bereits von Superman-Gegnern mit überirdischen Kräften vernichtet. Nach der Zerstörung schafften es die Geschichtenerzähler aus dem DC-Verlag bislang aber immer wieder, Metropolis dank dramaturgischer Kunstgriffe neu erstehen zu lassen. So kann Superman auch künftig seinen Feinden zurufen, was er 1974 seinem Gegenspieler entgegenschleuderte, dem die gigantische Hand gehörte: „Ich stecke ein, was immer Du austeilst, um Metropolis zu retten!“
(Der Artikel ist die aktualisierte Fassung eines Textes, der erstmals im August 2006 im Tagesspiegel veröffentlicht wurde.)
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