Nikolaus Harnoncourt und die Wiener Philharmoniker: Grenzenlose Liebe
85 Jahre wird Nikolaus Harnoncourt im Dezember alt, das Konzerthaus am Gendarmenmarkt widmet ihm eine Hommage - in deren Rahmen der in Berlin geborene Österreicher jetzt selbst in Erscheinung getreten ist. Am Pult der Wiener Philharmoniker dirigierte er Schuberts "Unvollendete".
Behutsam, mit tastenden Schritten kommt Nikolaus Harnoncourt auf die Bühne des Konzerthauses. Ein großer Mann, der mittlerweile eben auch ein alter ist. Am 6. Dezember kann der in Berlin Geborene, in Wien Verwurzelte seinen 85. Geburtstag feiern, noch bis zum 16. November wird er am Gendarmenmarkt mit einer Hommage geehrt, als deren Hauptattraktion er selber auftritt. Zusammen mit den Wiener Philharmonikern ist er gekommen, um ein Schubert-Programm zu dirigieren – weil das Orchester seiner Meinung nach „immer noch den 6. Sinn für Schubert hat“, diesen Tondichter von der traurigen Gestalt, „der im Wiener Dialekt komponierte“.
Mit stolzgeschwellter Brust, wie man es von dieser Tonkünstlervereinigung gewohnt ist, die nie daran zweifeln würde, auf ewig die beste der Welt zu sein, erscheinen die Wiener Philharmoniker. Beim Berlin-Gastspiel sitzt natürlich ihre Konzertmeisterin am 1. Pult, die Bulgarin Albena Danailova, ja so weit sind sie in Österreich! Sechs weitere Frauen sind zwischen den Frackträgern auszumachen.
Die großen Werke bleiben ewige Rätsel
Eher vorsichtig, wie gesagt, folgt ihnen Nikolaus Harnoncourt. Doch sobald er das Podium erreicht hat, scheint ein Energiestoß durch ihn hindurchzugehen. „Ich kann’s nicht lassen, ich muss Ihnen etwas sagen“, spricht er ins Mikrofon, das er unsichtbar am Kopf befestigt trägt, wie ein Musicalsänger. Vermutlich seien die meisten im Publikum überzeugt, die Werke des Abends gut zu kennen, also Schuberts „Unvollendete“ sowie die „Rosamunde“-Bühnenmusik. „Das haben wir auch gedacht zu Beginn der Proben. Doch die großen Werke bleiben ewige Rätsel, sind uns immer neu. Darum hören sie heute ausschließlich Uraufführungen.“
Mag Harnoncourt rein schlagtechnisch betrachtet kein begnadeter Dirigent sein – was die Musiker an ihm schätzen, ist seine Fähigkeit, Musik zu erklären, mit Worten wie mit Gesten. Und darum sind die Wiener Philharmoniker auch bereit, bei der mit mancherlei erklärenden Zwischentexten angereicherten „Rosamunde“ tatsächlich Dinge anders zu machen, als ihre heilige Tradition es normalerweise vorsieht.
Die Ouvertüre will und bekommt Harnoncourt sehr ruppig – und darum sehr lebendig. Der ersten dramatischen Zwischenaktmusik in h-Moll verleiht er packende Theatralik, jeder harmonische Wechsel führt hier auch zu atmosphärischen Veränderungen, der Klang hat enorme Tiefenschärfe. Wo er verdeutlichen will, wählt er eine drastische Hell- Dunkel-Dramaturgie. Aber er lässt der Musik in den bukolischen Passagen auch Raum zum Fließen, ja er schafft es sogar, dass die Dauerfeier des Landlebens im letzten Drittel der Partitur nie fad wird. Weil selbst die biedermeierlichsten Nummern von seiner grenzenlosen Liebe zu diesem Werk durchpulst sind. Betörend singen dazu die Holzbläser, ebenso wie der aus Wien mit angereiste Arnold Schoenberg Chor.
In der „Unvollendeten“ dürfen dann die Streicher brillieren, vor allem die Primgeigen mit ihrem unnachahmlichen, schwebenden Klang. Nichts muss in den Kopfsatz hineingeheimnist werden, wenn der 6. Schubert-Sinn der Wiener alle Widersprüchlichkeiten selbstverständlich erscheinen lässt. Mit atemberaubender Intensität gestaltet Harnoncourt die Details, ohne Hast, bis der Schlussakkord schmerzvoll schön verglüht wie das Abendsonnenlicht im August.