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Der Sohn als Fotograf. Louis Garrel und Laura Smet in „la frontière de l'aube“. Entstanden ist der Film 2008, selbstverständlich in Schwarz-Weiß.
© Arsenal

Philippe Garrel und seine Filme: Ganz verrückt normal

Seine Filme sind sehr französische Liebeleien, Ehehöllen, Abschiedstänze: Das Arsenal feiert den Regisseur Regisseur Philippe Garrel mit einer Retrospektive.

Wer das Universum des Philippe Garrel betritt, steigt in einen Schacht. Einen Zeitschacht. Einen Lichtschacht zugleich. Aus dem Dunkel der Gegenwart geht es abwärts, aus Schattenzonen in süchtig machende Lichtschütten aus Schwarzweiß, zu schimmernd schönen Gesichtern, zu kaum möblierten Räumen, Traumfetzen aus Vergangenheit, wie sie die Kamera von Raoul Coutard gesehen hat oder, eine Generation später, von Renato Berta, und dazu jazzt versonnen ein Saxofon oder improvisiert jemand auf dem Klavier. Und ganz unten, wo das Licht ins Gleißende übergeht, plötzlich Farbe. „La cicatrice intérieure“ heißt Philippe Garrels früher Film von 1971, er selber geistert da durchs Nichtgeschehen in rotem Wams, seine Geliebte, Sängerin Nico, tönt raunend dazu mit tiefer Stimme, und ein hübscher Nackter (Pierre Clémenti) reitet hoch zu Ross durch leere Landschaften in vollendetem Weiß.

„La cicatrice intérieure“, deutsch „Die innere Narbe“, ist ein 60 Minuten überlanges Musikvideo aus einer Zeit, als es noch keine Musikvideos gab, da war Garrel 23, und die amour fou mit der bald heroinsüchtigen Nico, die fast zehn Jahre dauern sollte, hatte da noch keine Narben. Ja, es tut gut, zu diesen Fast-Anfängen des Philippe Garrel, den sie einen Nachläufer der Nouvelle Vague nennen wie Jean Eustache und Jacques Doillon, hinabzusteigen und von dort langsam aufwärts ins Heute. Die Leute in seinen frühen Filmen sind jung, sie tasten sich voran in etwas Vertracktes, das gemeinhin als vernünftiges Leben durchgeht, sie verlieren sich, sie machen weiter und wenn es ganz schlimm kommt, geht es gegen die Wand. Geschichten? Eher was für später, nach 1980, als auch Philippe Garrel irgendwie zu erzählen begann. Aber eher nicht so, wie es heute wieder sehr üblich ist, mit Anfang, Mitte und Ende.

Lange blieb er unsichtbar

Letztes Jahr war der neueste Film von Philippe Garrel in unseren Kinos zu sehen, eine immerhin sehr französische Dreiecksgeschichte mit Clotilde Courau, Stanislas Merhar und Lena Paugam, alle drei wunderbar. Und tatsächlich, „Im Schatten der Frauen“ war der erste Film Garrels, der hier überhaupt ins Kino kam, und dabei ist der Mann schon seit 50 Jahren dabei – Tusch! Aber auch sonstwo ist Garrel, in Boulogne-Billancourt bei Paris geborener Sohn des Schauspielers Maurice Garrel, als Regisseur weithin unsichtbar geblieben. Ein paar Kino-Ministarts in Österreich, eine Doppel-DVD in den USA, Liebhabersachen. Und in der Heimat holte sein einziger Kinohit „Le vent de la nuit“ (1999) in dem – ausnahmsweise in Farbe! – ein roter Porsche sowie Catherine Deneuve in tragenden Rollen unterwegs sind, 90 000 Zuschauer. Und das hieß damals im Gutefilmeparadies Frankreich: nahezu nichts.

Und jetzt plötzlich im Berliner Kino Arsenal fast alle seiner 30 Filme, einen ganzen Monat lang – die volle Überdosis, wie schön! Wer da hingeht, verlässt alle zeitgenössischen Räume des Filmeguckens: die gruseligen, die gemütlichen, nicht zu vergessen die gruselig gemütlichen. Die bürokratischen, die sich pro Film jeweils ein Thema setzen und selbiges feinsäuberlich herunterbuchstabieren. Und das Boah-ey-Spektakelkino sowieso. Nur vom Seriellen haben auch Garrels periphere Seelensiedler etwas, weil in seinen Filmen immer wieder mal sein echter Vater Maurice, mal seine echten Kinder Louis und Esther und auch seine zeitweiligen Partnerinnen (Nico und Brigitte Sy) mitspielen, und dies – weil es meist um die prägnantestmögliche Transzendenz von gelebter, erlittener Wirklichkeit geht – selbstverständlich als Vater, als Kinder, als Liebhaberin und/oder Ehefrau.

Wie so was geht? Tragisch, komisch, ganz verrückt normal. Zum Beispiel in „Les baisers de secours“ (1989): Da kann Jeanne (Brigitte Sy), Schauspielerin und Frau des Filmemachers Mathieu (Philippe Garrel) überhaupt nicht verstehen, warum er für einen Film über ihre Beziehung zwar sich, nicht aber sie, sondern eine andere (Anémone) in den Hauptrollen besetzt. Anlauflos stürzt der Film in einen furiosen Ehedialog über das Arbeiten und die Liebe, über Realität und Fiktion – und die agile Kamera von Jacques Loiseleux tanzt elegant zwischen den beiden düster verstrickten Kämpfern und misst ihre Distanz vor einem lächerlich hellen Fenster aus. Spielen da zwei eins zu eins, was sie leben? Oder gelebt haben? Sehr möglich. Und ein Vater (Maurice Garrel) kommt vor und der kleine Louis, damals sechs, bewegt sich bereits so souverän vor der Kamera, als wäre sie gar nicht da.

Exorzist an der eigenen Seele

Der jungerwachsene Louis Garrel – Farbfilmfans bekannt aus Bernardo Bertoluccis „Die Träumer“ (2003) – agiert, strubbelköpfig wie der Vater, bei Philippe Garrel ein bisschen wie die Kunstfigur Antoine Doinel in den Filmen von François Truffaut, als jüngeres Ego des Regisseurs. In dem nach kurios verlangsamten Actionbeginn abenteuerlich zerfasernden Dreistünder „Les amants réguliers“ (2005) taumelt Louis Garrel stellvertretend durch die politischen Illusionen und privaten Desillusionen des Pariser Mai ’68. Oder, drei Jahre später, in „La frontière de l'aube“: Da verliebt sich Louis unsterblich, nein: tödlich in den alkoholkranken, tablettensüchtigen Star Carole (gespielt von der Model-Schönheit Laura Smet) – fernes Echo auf die dramatische Lovestory mit der 1988 verstorben Nico. Eine Obsession fürs Leben, eine Liebes- und Schmerzensaustreibung trieb und treibt Philippe Garrel da von Film zu Film, hilfloser Exorzist an eigener Seele.

So ließe sich das immer weiterschreiben, vagabundierend zwischen den flackernden Schatten der ineinander verschlungenen Filme, die ein einziger großer Lebensfilm sind, an dem Philippe Garrel immer weiter dreht. Zweimal, 1991 und 2005, haben sie ihm bei der Mostra in Venedig den Regiepreis überreicht, und das hat den Mythos Garrel zwar unangreifbarer, doch noch ungreifbarer gemacht. Immer wieder verirren sich Abenteuerlustige in den funkelnden Stollen seines Werks – anfangen ließe sich mit dem vergleichsweise zugänglichen „La jalousie“ von 2013, in dem es um Eifersucht geht, aber auch um beruflichen und sehr privaten Neid –, und früher oder später werden sie süchtig. Das Leuchten zweier Gesichter vor der Abblende. Die Hässlichkeit von Hotelzimmern, zart gestreift. Freunde, die verlässlich müde durcheinanderreden. Oder zwei Atemlose, die ein Treppenhaus hinaufstürmen in ihre Mansarde, in ihre Liebe und ihre Finsternis.

Bis 30. Oktober im Arsenal, Eröffnung heute, 1. Oktober, 20 Uhr, mit „La jalousie“. Details: www.arsenal-berlin.de

Jan Schulz-Ojala

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