Spaß-Doku "Verführt und verlassen": Himmel, Hölle, Cannes
James Toback und Alec Baldwin zeigen in „Verführt und verlassen“, wie sie Geld für ein irres Filmprojekt sammeln.
Wer Jahr für Jahr das Privileg hat, dienstlich nach Cannes zu reisen, kennt das Problem: Wie kann ich gegenüber den neidischen Daheimgebliebenen einen elftägigen Frühlingsaufenthalt unter Palmen, am Meer, zudem mitten in weltberühmten Postkartenansichten und umschwirrt von bestaussehenden Prominenten jederlei Geschlechts, als jenes kräftezehrende, nein, beinharte, nein, brutalstmögliche Arbeitsfestival erscheinen lassen, das es tatsächlich ist – großes FilmkritikerEhrenwort!
Antwort: Es gelingt nicht. Genauer: Es gelingt nie. Stets lässt die Heimat einen mit kaum verschleiertem Giftblick ziehen, und schlechtesten Gewissens widmet man sich, bescheidenst einquartiert unterm Traumhimmel der Côte d’Azur, seinen irdischen bis unterirdischen beruflichen Obliegenheiten: Filmegucken ab morgens um acht, Gruppeninterviews bis zum Abwinken und, wenn es ganz schlimm kommt, vor Mitternacht ein Super-8-Softporno mit Depardieu alias Dominique Strauss-Kahn. Nun endlich aber naht Abhilfe: James Toback hat, zusammen mit seinem Buddy Alec Baldwin, die ultimative Anti-Cannes-Backstage-Doku gedreht. „Verführt und verlassen“ führt, man muss es so schonungslos sagen, geradewegs in die Hölle.
Toback und Baldwin verfolgen einen äußerst ehrgeizigen Plan. Sie wollen Geld auftreiben für „Der letzte Tango in Tikrit“, zu drehen am liebsten an Originalschauplätzen im Irak. Ein desillusionierter US-Geheimdienstmann (Alec Baldwin) begegnet einer friedenspolitisch engagierten Journalistin (Neve Campbell), und das Paar widmet sich, frei nach Marlon Brando und Maria Schneider, mitten in den Wirren des ersten oder auch zweiten mesopotamischen Bush-Kriegs sexuellen Perversionen, wie sie so noch nie, in Worten: noch absolut nie auf der Leinwand zu sehen waren. Leitmotiv: „Die Welt geht unter, let’s fuck!“
Toback und Baldwin sind eher Promis als Profis
Zu diesem Zweck suchen die Filmemacher Unterstützung durch real existierende Regieprominenz von Bertolucci über Scorsese bis Polanski. Und die dazu nötigen Millionen bei so steinreichen wie namenlosen Finanziers; weil die allerdings bei Baldwin und Campbell kaum Cashcow-Potenzial sehen, sprechen die Filmemacher so prompt wie geschmeidig schon mal bei Diane Kruger und Ryan Gosling vor. Also kommt es auf Jachten und Apartmentbalkons, bei Partys und in Hotelsuiten zu jener Art von Interviews, wie sie – nur unwesentlich modifiziert – auch den Liebhabern von Celebrity-Sendungen sowie DVD-Bonusmaterial geläufig sind. Visuell aufgemotzt wird „Verführt und verlassen“, für den Toback/Baldwin tatsächlich Finanziers gefunden haben, durch auf Splitscreen dargereichte Originalausschnitte erwähnter Filme – sowie akustisch durch Schostakowitschs gerne im Dauerfortissimo siedelnde Fünfte Sinfonie.
So recht fokussiert auf die Finanzierung ihres Projekts allerdings zeigen sich die beiden Akquisiteure nicht gerade, zumal sie auch in diesem Geschäft eher Promis als Profis sind. Lieber sammeln sie allerlei abgestandenes autobiografisches Regisseurs-Anekdotenmaterial über Film und die Welt, schauen tapfer tränenlos zu, wie die angebaggerten Millionäre angesichts eines Pitchs, für dessen kommerzielle Power man schon mindestens Borat heißen müsste, elegant auf Tauchstation gehen – und latschen, nicht zu vergessen, immer mal wieder breiträumig mit dem Kamera-Equipment über die Croisette. Schon wird das tricky documentary vertrackterweise zum, ich sag’s ja, Canneser cinéma vérité: total öde, dieser Zirkus, oder?
Tja, und irgendwann packt es selbst den Abgebrühtesten doch. Nicht bei Scorsese oder Bertolucci, aber etwa bei Festivalchef Thierry Frémaux. Wie ein großer Junge schwärmt er von seinem ersten Mal als Student in Cannes, ohne Akkreditierung, ohne Unterkunft und folglich jede Nacht im Auto – „aber ich war hier!“. Oder wie Ryan Gosling plötzlich ernsthaft einen Drehtag schildert, wenn beim 43. Take einer Szene nichts mehr übrig ist von der Anfangsenergie („aber den nehmen sie dann!“), zu schweigen von der Erinnerung an einen Fast-Flugzeugabsturz („Ich hatte nur den Instinkt, mein Steak aufzuessen“). Oder Baldwin, unvermutet hingerissen von der Erinnerung an die Arbeit mit Woody Allen: „Der hat mehr Talent in seinen Fußnägeln als andere Regisseure im ganzen Körper!“
Und dann ist, nach 987 Splitscreens und 654 Talking Heads und 321 Einstellungen auf Hotelsofas plötzlich Schluss. So plötzlich wie jedes Jahr das ganze vermaledeite Arbeitsfestival. Wie jetzt? Schon?
In den Kinos b-ware, Eiszeit, FaF, Hackesche Höfe, Kant und Rollberg (alle OmU). Mehr zum Filmfestival von Cannes unter www.tagesspiegel.de/themen/filmfestspiele-cannes/