zum Hauptinhalt
Stillleben mit Fleisch und Heiliger Familie. Ölgemälde aus der Werkstatt von Pieter Aertsen (1551).
© Foto: Madrid, Fundacion Banco Santander/akg-images

Essen und Ethik: Gans oder gar nicht

Zwischen Karnismus und Veganertum: Was man in Zeiten der Massentierhaltung alles bedenken sollte, um sich in aller Seelenruhe ein weihnachtliches Festessen zu gönnen.

Es gibt Dinge, die man nur an Weihnachten tut. Eine Gans in den Ofen schieben etwa oder in den Gottesdienst gehen. Beides kann einen ratlos zurücklassen. Frieden auf Erden – und schon steht man mit dem Messer in der Hand vor dem dampfenden Tier und weiß nicht, wo man ansetzen soll. Es scheint unmöglich, diesen Braten halbwegs gerecht zu zerteilen; von fachgerecht kann ohnehin keine Rede sein, denn die, die das Zerteilen ganzer Tiere noch beherrschten, sitzen nicht mehr mit am Tisch.

Rainer Hagencord gründete das Institut für Theologische Zoologie

Weihnachten feiern Christen die Fleischwerdung Gottes, der sich durch die Geburt Jesu als ein mitleidender Gottvater zu erkennen gibt. Um einiges früher in der Menschheitsgeschichte hat er uns noch, ohne mit der Wimper zu zucken, aus dem Garten Eden geworfen. Dabei hatten wir doch einen umfassenden Auftrag erhalten: „Und Gott der Herr nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, dass er ihn bebaute und bewahrte.“ Wir sind gefallen – die Tiere durften bleiben. Lassen wir unsere Mitgeschöpfe dafür büßen, indem wir sie hemmungslos zu Nutztieren machen, deren massenhaftes Leid wir billigend in Kauf nehmen? Unmittelbar vor dem Fest tauchen wieder Bilder aus Mastfabriken auf, diesmal aus Brandenburg, auf denen Enten, die ihr eigenes Gewicht nicht mehr halten können, lebendig mit Mistgabeln aufgespießt und auf den Müll geworfen werden.

„Schweine und Puten verschwinden in Mastfabriken – und ich erlebe eine Kirche, die angesichts dessen sprachlos ist oder Angst hat“, prangert Rainer Hagencord das Geschehen an. Der Priester und Biologe hat das Institut für Theologische Zoologie gegründet, gerade ist es fünf Jahre alt geworden. In dieser Zeit hat Hagencord Krach mit Landwirten und Rückpfiffe seines Bischofs riskiert. „Wir sind mitten in einer ökologischen Katastrophe, und der Grund ist unser unverantwortliches Konsumverhalten.“ Große Teile der Schöpfung: eingepfercht ohne Sonne, vollgestopft mit Pharmaka, zu Abertausenden abgestochen. Und zum großen Teil weggeworfen. Hagencords Institutskollege Anton Rotzetter gibt angesichts des täglichen Gemetzels zart zu bedenken, dass „Versöhnung mit dem Tier Versöhnung mit uns selbst“ bedeuten könne.

Weihnachtsbraten? Längst ist erwiesen: Der Mensch kann ohne Schaden vom Allesfresser zum Vegetarier werden

Doch davon sind wir weiter denn je entfernt: 800 000 sogenannte Nutztiere werden jedes Jahr in Deutschland gemästet und geschlachtet, weltweit sind es 65 Milliarden. Das Meer ihrer Fäkalien vernichtet Böden, Flüsse und Ozeane, immer mehr Getreide landet in Futtertrögen statt auf den Tellern der Hungernden. Und ein Ende ist nicht abzusehen: China und Indien übernehmen nicht nur unseren fatalen Drang zum Auto, auch der Fleischkonsum steigt dort mit dem Lebensstandard. 2050 werden knapp zehn Milliarden Menschen auf der Welt zu versorgen sein, die Agrarkonzerne bereiten sich auf eine 70-prozentige Leistungssteigerung vor, die in ihren Augen nur durch noch mehr Chemie, Gentechnik und Massentierhaltung erreicht werden kann.

Tiere sind empfindungsfähige Wesen – für uns Konsumenten gilt das nur sehr selektiv. Hinter unserem Mangel an Mitgefühl hat die US-Psychologin Melanie Joy eine Ideologie des Fleischessens ausgemacht: den Karnismus. Er züchtet seine eigenen Mythen: Es sei normal, natürlich und notwendig, Fleisch zu essen – obwohl jeder dieser Punkte längst widerlegt ist. Der Mensch kann sich, ohne Schaden zu nehmen, vom traditionellen Allesfresser zum Vegetarier oder Veganer wandeln. Karnismus hingegen lehre uns, unser Mitgefühl auszuschalten, und führe zwangsläufig zu Verrohung, postuliert Joy: Die aktuellen Bilder der Brandenburger Entenqual geben ihr recht.

In den USA studieren inzwischen mehr Vegetarier als Katholiken

Stillleben mit Fleisch und Heiliger Familie. Ölgemälde aus der Werkstatt von Pieter Aertsen (1551).
Stillleben mit Fleisch und Heiliger Familie. Ölgemälde aus der Werkstatt von Pieter Aertsen (1551).
© Foto: Madrid, Fundacion Banco Santander/akg-images

Selbst die zutiefst konservative Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) muss einräumen, dass Vegetarier seltener an Übergewicht, Bluthochdruck und erhöhtem Cholesterin leiden. Das Risiko, an Altersdiabetes, Gicht und Krebs zu erkranken, sei geringer. Das gelte auch für Herz-Kreislauf-Krankheiten. Dennoch empfiehlt die DGE einen gedrosselten Konsum mit 300 bis 600 Gramm Fleisch pro Woche. Gemessen am durchschnittlichen Verbrauch in Deutschland bedeutet schon das mindestens eine Halbierung oder gar eine Reduktion um 75 Prozent. Die Schriftstellerin Karen Duve hat sich nach ihrem Selbstversuch mit vertretbaren Ernährungsweisen („Anständig essen“) einen 90-prozentigen Verzicht auf Fleisch zum Ziel gesetzt. Damit hat sie zum Bild vom aufgeklärten Flexitarier beigetragen, dem sich angeblich jeder zehnte Deutsche verbunden sieht: durch ethische Einsicht zu einem bewussten Essverhalten kommen und durch fundiertes Wissen in der Lage sein, auch individuelle Entscheidungen treffen zu können.

Der plötzlichen Flut von Teilzeitvegetariern steht die stetig wachsende Gruppe von Vegetariern gegenüber, deren Zahl in Deutschland mittlerweile mit bis zu sieben Millionen Menschen angegeben wird, 900 000 davon sollen sich vegan ernähren, also auf sämtliche Produkte tierischen Ursprungs verzichten. Die Weltleitmesse Bio-Fach in Nürnberg widmet dem veganen Lebensstil im kommenden Februar eine eigene „Erlebniswelt“. Kein Wunder, denn Veganer sind überwiegend jung und gebildet, sie repräsentieren eine neue Konsumentengeneration. Lange werden sie sich nicht mehr mit Seitansbraten, Veggie-Ente und Peace-Hackbraten abspeisen lassen, die wie Abweichungen von der Fleischnorm wirken.

Jonathan Safran Foer, dessen Buch „Tiere essen“ manch einem nachhaltig den Appetit auf Fleisch verdorben hat, sieht es als Hoffnungszeichen für die Welt, dass inzwischen „mehr Vegetarier an US-Unis studieren als Katholiken“.

Unterdessen müssen auch klassische Besseresser anerkennen, dass die Fleischfrage zur Systemfrage geworden ist. 98 Prozent der Produktion stammen aus der Massentierhaltung. Und auch das EU-Bio-Siegel steht nicht für romantische Kleinbetriebe. Die Slow-Food-Bewegung versucht, eine Resthoffnung auf guten oder zumindest nicht schädlichen Fleischkonsum zu wahren: In ihren „Kuttelgesprächen“ prangert sie an, dass rund 50 Prozent des in Deutschlands produzierten Fleischs vergeudet wird: weil die Kunden nur Filets, Koteletts und Schnitzel kaufen wollen – und dabei nur zu gerne vergessen, dass dahinter ganze Lebewesen stehen, von der Schnauze bis zum Schwanz, vom Schnabel bis zum Bürzel. „Nur Edelteile zu essen, ist weder ökologisch noch moralisch vertretbar“, stellt Ursula Hudson klar, die Vorsitzende von Slow Food Deutschland. Ihre Weihnachtbotschaft: Esst wenigstens das ganze Tier. Doch wer weiß noch, wie man Gänseklein zubereitet? Oder Lammkutteln? Frei nach der aktuellen Komödie von Moritz Rinke: Wir töten und wissen nichts.

Und was ging dem Weihnachtsbraten, der Gans oder der Mettensau eigentlich voraus? Eine Fastenzeit, die nach Sankt Martin begann und 40 Tage währte. Über Fleisch zu verfügen, bedeutete einst Herrschaft und Reichtum. Heute ist die Massentierhaltung unser Armutszeugnis. Wir stehen vorm immer vollen Kühlregal und ahnen, dass ein ethisch vertretbares Angebot anders aussehen muss. Gibt es denn gar keinen Lichtblick? Kulturell immer. Zum Beispiel das traditionelle italienische Essen am Heiligen Abend: eine herrliche Folge von Antipasti, je weiter südlich man kommt, desto umfassender aus Gemüsen. Niemand, der gerne isst, wird hier etwas vermissen. Auch in Polen isst man am 24. Dezember zwölf fleischlose Gerichte. Und noch eine gute Nachricht: Noch nie gab es so viele wirklich anregende vegetarische oder vegane Kochbücher. Schenken Sie sich eins. Wir sprechen uns Ostern wieder.

Ulrich Amling

Zur Startseite