Veganismus als modischer Kult: Essen und vergessen
Wir Deutsche sind nicht nur Fußballweltmeister, sondern auch weltweit führend in der Bewegung des Veganismus. Die selbst auferlegten Speisetabus sind ein modischer, säkularer Kult. Ein Kommentar.
Alarm, Furcht und Schrecken, wo immer man hinhört oder hinsieht. Mehr Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht als in allen Jahrzehnten zuvor. Afrikaner werden von der Ebola-Seuche bedroht, Ukrainer von Irredentisten, Syrer wie Iraker von irren IS-Fundamentalisten, westliche Zivilisationen generell von Salafisten, Kinder auf allen Kontinenten von zölibatären Geistlichen. Und in Berlin plagt sich die Regierung mit der frisch gewonnenen Erkenntnis, dass Heer, Marine und Luftwaffe miserabel ausgestattet sind. Nein, die Welt scheint kein sicherer Ort. Was auch immer man tut, all das lässt sich ebenso wenig vergessen wie die eigene Machtlosigkeit angesichts überwältigender Fakten und Nachrichten, die kaum zu verdauen sind. Gegen den sozialen und politischen Saustall, als der sich unser Globus darstellt, sind immer mehr Zeitgenossen versucht, im Privaten zu rebellieren, einfach für sich und die Seinen. So gerieten sie unter die Vegetarier und schließlich unter die Veganer. Die wissen, was sie verdauen, sie wählen es ja selber aus. Sie haben Übersichtlichkeit, Leitlinien, Kontrolle!
Es gibt sogar schon eine vegane Grundschule
Vor allem den Deutschen haben es die Pflanzen angetan. Wir Deutsche sind nicht nur fußballernde Weltmeister, sondern im Augenblick, das besagen Statistiken und Umfragen, auch weltweit führend in der Bewegung des Veganismus. Angeblich hängen schon eine halbe Million Landsleute dieser verschärften Form des Vegetarismus an, zu den klassischen Vegetariern sollen im Augenblick bereits neun Millionen Bürgerinnen und Bürger zählen. Entstanden sind dabei vegane Cafés, vegane Restaurants und vegane Kreuzfahrtangebote. Vegane Kochbücher wurden zu Bestsellern und es gibt sogar schon eine vegane Grundschule.
„Wenigstens mich selbst, meinen eigenen Leib, kann ich vollkommen friedlich und sauber erhalten!“ So scheint das Credo dieser wachsenden Gruppe zu lauten. Zwar schweben einigen Adepten des hypervegetarischen Lebensstils höhere Ziele vor Augen, das Eintreten gegen die Massentierhaltung und den Raubbau der industrialisierten Landwirtschaft an der Umwelt. Vielen geht es jedoch offenbar eher um eine neue Form des Cocooning, des Rückzugs aus der konfliktreichen Realität in das heilsam gepolsterte Schneckenhaus der Sorge um sich. Diesem Rückzugsmanöver dient das Befolgen selbst auferlegter Speisetabus als modischer, säkularer Kult.
Im Kokon eines privaten Kults besitze ich inmitten einer aus den Rudern laufenden Welt die private Oberaufsicht über einen privaten, klar definierten Bereich, ich übe Kontrolle über das aus, was zu mir gelangen, in mich gelangen darf. Veganer verzichten nicht nur völlig auf tierische Produkte, auch auf Schuhe aus Leder, sondern zusätzlich auf Milchspeisen und Eier. Auch stehlen sie nicht einmal den Bienen ihren Honig.
Es handelte sich um massenhafte, kleine Fluchten haltsuchender Individuen
„Wer könnte friedlicher sein als wir?!“ Bei aller berechtigten Kritik an Produktion und Konsum von Lebensmitteln im Technologiezeitalter, bei aller vordergründigen Harmlosigkeit einer gesteigerten Sorge um sich und des Leugnens der eigenen Aggression, wirft das Phänomen des Veganismus doch noch ganz andere Fragen auf. Moden wie diese sind Symptome. Extremer Vegetarismus in seiner aktuellen, biopolitischen Gestalt, die sich neu, postmodern und aufgeklärt gibt, hat durchaus seinen historischen Hintergrund. Säkulare Adepten von Speisetabus und Diäten gab es etwa Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem aber in den 1920er Krisenjahren in Deutschland zuhauf. Oft siedelten sie nah an weiteren Aspekten des Aberglaubens, sie befassten sich beispielsweise gern auch mit Destinationslehren oder Astrologie. Um massenhafte, kleine Fluchten haltsuchender Individuen handelte es sich, um fatale Irrpfade der Ich-Prothetik. Denn die privaten Kulte sind ja nichts weiter als eine, wenn auch meist passive und unbewusste Verweigerung, sich real und realistisch am sozialen, politischen Geschehen zu beteiligen. Biologistische Strategien bieten vermeintliche Auswege aus der Ohnmacht, und der aktuelle Veganismus zeigt sich zugleich kompatibel mit den Anforderungen einer werbeinduzierten Fitness- und Wellnessgesellschaft. Ob der neo-esoterische Trend der Veganer dieser Tage anhält, wie er sich weiter gestaltet und wohin er wandert, das ist nicht ausgemacht. Nur eins ist klar: So harmlos, apolitisch und ahistorisch, wie sich die exklusiv Pflanzenessenden selber sehen, ist das Phänomen ihres Aufkommens nicht. In der vegetarischen Suppe schwimmen allemal ein paar heikle Haare.
Caroline Fetscher
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