Erinnerung an Arnulf Baring: Freier Radikaler
Arnulf Baring verteidigte die Demokratie mit unbequemen Fragen. Zum Tod des streitbaren Historikers und Publizisten.
Er war eine bemerkenswerte Gestalt: mit seinen kontroversen Thesen, mit seiner Sorge um die Entwicklung der Bundesrepublik, mit den Irritationen, die er auslöste. Arnulf Baring, der am Samstagnachmittag nach langer Krankheit gestorben ist, hat seit den sechziger Jahren am Selbstbild dieses Staates und der Öffentlichkeit mitgewirkt – intelligent und heftig, mit dem Florett und mit dem Zweihänder, mit anregenden Behauptungen und querköpfigen Thesen. Es war, nehmt alles nur in allem, ein intellektuelles Temperament von eindrucksvollem Format.
Wobei vor allem der Nachdruck und die Lust an der Drainierung bleibt, mit denen er an den Markierungen des Zeitgeistes rüttelte. Dabei verstand er sich stets als Verteidiger der politischen Ordnung, als Mann der Mitte, auch wenn er oft nicht so verstanden wurde – was er wiederum nicht verstand.
Mit seiner sprudelnden Überredungsgabe drückte er die Unzufriedenheit der im Kern Zufriedenen aus, den Widerspruch zum Zwecke der Bewahrung, ein Radikalismus der Mitte, der freilich oft nicht sehr weit von den Stimmungen entfernt war, aus denen die AfD ihre Unterstützung zieht. Obwohl er mit der nichts am Hut hatte. Dafür war er zu sehr selbst, unverwechselbar in seiner Suada, immer leicht erregt, sozusagen Schaumkronen treibend, auch gelegentlich peinlich ausrastend. Aber immer mehr fragend als antwortend.
Die "Stunde Null", eine Erfahrung, die sein Leben grundiert
Baring gehörte als Zeithistoriker und Publizist zum eisernen Bestand des personellen Erbteils der Nachkriegszeit. Er zählt zu der Phalanx der Ralf Dahrendorfs, Kurt Sontheimers und Hans-Peter Schwarz’, die das politische Leben in der Bundesrepublik so ungemein bereichert haben. Jahrgang 1932 war er gerade noch von Krieg und Kriegsende eingeholt worden – einerseits in brutaler Weise, indem er das Inferno der Bombardierung seiner Geburtsstadt Dresden gerade noch überlebte, andererseits weil sein Geburtstag auf den 8.Mai 1945 fiel, er also am Tag der Kapitulation dreizehnjährig wurde.
Keiner hat wie er die „Stunde null“ als Bewusstsein des geschenkten neuen Anfangs beschrieben. Die Erfahrung ist eine Grundfarbe seines Lebens geblieben. Man muss daran erinnern, dass der junge Baring eine Erscheinung war, die in die bewegten sechziger Jahre passte. Das gilt für seine glänzende akademische Laufbahn – das Jurastudium, die Studiensemester in Amerika und Frankreich, eingeschlossen ein Harvard-Kurs bei Henry Kissinger.
Und es betrifft seine publizistischen Anfänge: Die begannen 1962 mit dem Aufsatz „Patriotisches Fragezeichen“. In ihm plädierte das damalige SPD-Mitglied energischer für eine Wandlung der Deutschlandpolitik. Aber es ist vor allem der Titel, der Barings Freunden und Gegnern im Nachhinein ein Gefühl vergnügter Bestätigung gegeben haben wird. Hat er nicht Zeit seines Lebens patriotische Fragezeichen geschrieben?
Zunehmend ging er mit dem politischem Betrieb ins Gericht
Diese Fragezeichen wechselten über die Jahrzehnte die Richtung. Die Verschiebung ins Nationalpädagogische, die vor allem nach der Wiedervereinigung unübersehbar wurde, prägte die Spur, die er in den vergangenen Jahrzehnten durch zahllose Podiumsdiskussionen und Talkrunden gezogen hat. „Deutschland , was nun?“ und „Scheitert Deutschland?“ hießen die Publikationen, in denen er den Weg der Deutschen im neuen Nationalstaat kritisch begleitete.
Vor allem rieb er sich am Zustand der Politik und der Politiker. Zunehmend ging er mit dem politischen Betrieb ins Gericht, dem es an Charakteren und Visionen mangele und der immer spürbarer die Verbindung mit den Bürgern einbüße. Da rief er dann auch einmal – in einem brillanten, unvergessliche Zeitungsbeitrag – die Bürger auf die Barrikaden.
Keiner, der die Verfassung, in der sich die Republik befindet, mit wachen Augen sieht, wird nicht berührt sein, wenn ein Mann von der intellektuellen Statur Arnulf Barings sich zu fundamentaler Kritik herausgefordert fühlt. Aber ein Bedauern über den Weg dieses inspirierenden Kopfes ist auch dabei, wenn man an manche neuralgische Stelle rührt.
Dabei bleibt doch der Autor, der der Zeitgeschichte zwei Bücher hinterlassen hat, die zu ihrem wertvollen Bestand zählen: die Analyse der Außenpolitik Adenauers und die Darstellung des Machtwechsels zur sozialliberalen Koalition. Es bleibt der akademische Lehrer – kaum einem ist in dem eher trockenen Universitätsbetrieb soviel Anerkennung und Lob entgegengebracht worden. Bleiben wird auch die Erinnerung an einen Mensch von Gemüt, an seinen Charme und seine einnehmende Lebendigkeit.
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