Corona und die Demokratie: Wenn Xi und Orbán Coronapartys feiern
Überall auf der Welt nutzen autoritäre Regierungen die Krise, um ihre Macht auszubauen. Doch auch für Autokraten ist die Lage komplizierter, als es aussieht.
Der Politikwissenschaftler Thorsten Benner ist Mitgründer und Direktor des Global Public Policy Institute, einer unabhängigen Denkfabrik in Berlin.
Für die staatliche chinesische Tageszeitung „China Daily“ war die Sache früh klar. Schon Anfang März schrieb sie, der Erfolg bei der Bekämpfung des Coronavirus reflektiere „die bedeutenden Vorteile“ des chinesischen Systems. Damals stand Deutschland gerade am Beginn der Pandemie. So sehr man der chinesischen Propaganda und ihren gefälschten Zahlen auch misstraut, konnte man damals berechtigte Angst haben, dass Demokratien im Vergleich schlecht aussehen könnten. Zwar hatten Taiwan und Südkorea beeindruckende Erfolge erzielt, doch ein Versagen europäischer Demokratien auf ganzer Linie wäre ein fatales Zeichen gewesen im Systemwettbewerb mit autoritären Modellen. Heute ist klar: Demokratien wie die deutsche können entschieden gegen die Pandemie vorgehen und mit großer Schnelligkeit Maßnahmen beschließen – auch solche, welche Freiheiten vorübergehend stark einschränken.
China, Ungarn, Zimbabwe, Aserbaidschan - überall auf der Welt nutzen Autokraten die Krise für ihre Interessen
In funktionierenden Demokratien sorgen Kontrollmechanismen dafür, dass diese Einschränkungen tatsächlich nur vorübergehend sind. Bei autoritären Regimen jedoch besteht die Gefahr, dass sie die Pandemie als Vorwand nutzen, um Macht an sich zu reißen und die Unterdrückung dauerhaft zu erhöhen. Der „Economist“ sieht bereits eine „Pandemie der Machtergreifungen“ („power grabs“). Und in der Tat. Im Windschatten der Pandemie sieht man vielerorts, dass Autoritäre ihre Macht zu zementieren versuchen. Mitten in der Europäischen Union hat sich Ungarns Premier vom Parlament einen Blankoscheck ausstellen lassen, um unbegrenzt per Dekret regieren zu können. Dies hat er direkt dazu genutzt, um Städte, in denen die Opposition regiert, finanziell auszutrocknen. Gleichzeitig droht ein neues Orbán-Gesetz denen, die Falschnachrichten zur Pandemie verbreiten, mit Haftstrafen. Das erinnert an Zimbabwe, wo Verbreitern von „Falschheiten“ jetzt 20 Jahre Haft drohen. In Algerien hat ein geschwächtes Regime die Pandemie genutzt, um gegen die Opposition vorzugehen. Aserbaidschans Präsident Aliyev bezeichnete die Opposition als „gefährliche fünfte Kolonne“ und sagte, dass „die Isolation von Vertretern der fünften Kolonne eine historische Notwendigkeit werden könnte“ als Teil der Pandemiebekämpfung. China wie Russland haben die Mittel zur Überwachung der Bevölkerung intensiviert. Peking hat die rechtliche Autonomie Hongkongs weiter untergraben und hat Oppositionelle festgesetzt.
Qualitativ neu ist das nicht - Russland Verfassungsreform, Chinas Übergriffe auf Hongkong - das war alles auch ohne Corona da
Doch die Rede vom Coronaparadies für Autoritäre verkennt, dass die Situation komplexer ist. Für jemanden wie Orbán, der sein autoritäres Regime gegen die demokratische Ordnung der Europäischen Union aufbauen muss, ist die Pandemie als Rechtfertigungsgrund von zentraler Bedeutung. Aber Machthaber in konsolidierten autoritären Systemen brauchen den Vorwand kaum. Xi Jinping hat sich auch ohne Pandemie als Langzeitherrscher installieren lassen, Konzentrationslager in Xinjiang errichtet und die Daumenschrauben der Repression angezogen. Putin hatte schon vorher sein Projekt der „Reform“ der Verfassung auf den Weg gebracht. Erdogan reichte ein Putschversuch, um massenhaft und willkürlich Andersdenkende hinter Gitter zu stecken. Für sie eröffnet die Pandemie keine qualitativ neuen Möglichkeiten der Machterweiterung.
Zu Coronapartys haben die meisten Autokraten kaum Anlass. Im Gegenteil: Auch sie stehen unter Druck. Nicht nur müssen sie eine Pandemie in Schach halten, die sich um Machtworte wenig schert und sich nicht wegsperren lässt. Vor allem müssen sie die Folgen der Coronarezession bekämpfen.
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Auch autokratische Regime geraten wegen der wirtschaftlichen Folgen der Krise enorm unter Druck
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte schon vor der Coronakrise mit einer Wirtschaft in Talfahrt zu kämpfen. Putins schwächelnde Wirtschaft leidet unter dem Rekordtief des Ölpreises. Risse in seinem Herrschaftssystem werden immer deutlicher. Putins Zustimmungswerte, die in einer nationalen Notfallsituation nach oben gehen sollte, scheinen sich in die entgegensetzte Richtung zu bewegen. Das ist die Schattenseite der Personalisierung des Herrschaftssystems, die Putin vorangetrieben hat. Die Bevölkerung macht ihn zunehmend für wirtschaftlichen Misserfolg verantwortlich.
In China hat Xi zwar einen möglichen Tschernobyl-Moment für die Kommunistische Partei abwenden können und den Kampf gegen die Pandemie nationalistisch ausschlachten können. Doch der Parteistaat befindet sich unter enormem Stress. Die Partei sieht sich global in einer Abwehrschlacht gegen all diejenigen, die Pekings Vertuschungsversuche als Ursache für die Ausbreitung der Pandemie anprangern. Und es gab viel Kritik im Inneren. Bei allen heroischen Leistungen chinesischer Gesundheitsfachkräfte: Die Pandemie hat schonungslos die Schwächen des Gesundheits- und Sozialsystems offengelegt. Pro Einwohner hat China weit weniger als ein Zehntel der Intensivbetten Deutschlands und damit viel weniger Spielraum bei der Virusbekämpfung. Und aufgrund der hohen Schuldenquote auf allen Ebenen kann Chinas Regierung heute weit weniger großzügig Konjunkturprogramme auflegen als noch nach der Wirtschaftskrise 2008.
Chinas Desinformationskampagne ist ein Zeichen der Schwäche
Auch mehr Repression nach innen kann die mangelnden wirtschaftlichen Chancen für einen wachsenden Teil der Bevölkerung nicht überdecken. Die Aggressivität, mit der Peking heute auch in Europa auftritt, mit Drohungen, Propaganda und Desinformation, ist mehr Zeichen von Stress und einem Gefühl der Bedrohung denn von Stärke und Selbstsicherheit. Das macht es für Europa nicht erbaulicher: Wir werden uns gegen Pekings Einflussnahmeversuche weit besser wappnen müssen. Und wir werden Antworten auf Pekings Aggressionen gegen Hongkong, Taiwan und andere Länder in seiner Nachbarschaft finden müssen.
Oxfam nimmt an, dass die Coronakrise eine halbe Milliarde Menschen in die Armut stürzen wird. Das heißt: die wirklichen politischen Erschütterungen stehen uns erst noch bevor. Aufgrund der wirtschaftlichen Verwerfungen sollten wir Destabilisierung als Folge der Pandemie mindestens genauso im Blick haben wie autoritäre Konsolidierung. Das kann auch vermeintlich stabile Autokratien wie China und Russland betreffen. Vor allem aber ist dies bei labilen Demokratien wie Autokratien eine nicht unwahrscheinliche Option.
Deutschland kann etwas tun, um junge und fragile Demokratien zu stützen
In einer angegriffenen Demokratie wie Brasilien wirkt das irre Handeln des Präsidenten Bolsonaro in der Coronakrise wie ein Brandbeschleuniger. Bolsonaro leugnet die Gefährlichkeit des Virus und wiegelt seine Anhänger auf. Scharlatane wie Bolsonaro entfachen ein enormes Chaospotenzial. Ganz Lateinamerika hat in den letzten Jahren bereits enorme Protestwellen aufgrund sozialer Ungleichheit gesehen. Die enorme Corona-Rezession wird die Lage nur verschärfen.
Schlecht sieht es auch für junge Demokratien wie Tunesien aus, sollten sie die wirtschaftlichen Folgen nicht abfedern können. Und auch in Europa bieten sich Autoritären wie dem Chef der italienischen Lega Nord und ehemaligen Innenminister Matteo Salvini neue Möglichkeiten der Machtübernahme, gerade wenn der Rest der EU Italien beim wirtschaftlichen Wiederaufbau nicht stärker unterstützt.
Deutschland sollte all die europäischen wie globalen Gefahren für die Demokratie im Zuge der Coronakrise in den Mittelpunkt der europäischen wie globalen Bemühungen stellen. Dass sich die von Berlin angestoßene Allianz für Multilateralismus klar gegen Desinformation und für Zugang zu freien Medien ausgesprochen hat in der von mehr als 20 Staaten unterzeichneten Erklärung von Mitte April, ist ein wichtiges Signal. Ein besonderes Augenmerk sollte Wahlen gelten, die in Corona-Zeiten besonders anfällig für Manipulationen seitens von Machthabern sind.
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Mehr als 50 Wahlen sind seit dem 1. März verschoben worden
Mehr als 50 Wahlen sind seit 1. März verschoben worden. Die Verschiebung muss nicht schlecht sein. Im Gegenteil: Sie kann verhindern, dass Wahlen unter suboptimalen Bedingungen durchgeführt werden. Die jüngste Entscheidung zum Verschieben der Wahlen in Polen unterstreicht dies. Wichtig ist, dass internationale Bemühungen dabei helfen, dass sich Regierung wie Opposition darauf verständigen, wie diese fair nachgeholt werden können. Deutschland sollte darauf drängen, dass fragile Demokratien besondere finanzielle Unterstützung erhalten durch internationale Finanzinstitutionen und dass bei Unterstützung für autoritäre Systeme auf Gegenleistungen gedrängt wird (etwa Freilassen von politischen Gefangenen im Falle der Türkei). Und innerhalb Europas sollten Finanztransfers an Rechtsstaatlichkeitskriterien gebunden werden. Dass Ungarns Premier nach Verabschiedung seines Ermächtigungsgesetzes Extra-Milliarden aus Brüssel aus dem ersten Corona-Hilfspaket bekam, ist ein fatales Zeichen. Dies darf sich nicht wiederholen. Generell sollte die Maxime gelten: „Follow the Money – dem Geld folgen.“ Wir sollten viel stärker beleuchten, wie korrupte Eliten westliche Finanzzentren nutzen, um gestohlene Gelder (auch aus Unterstützungspaketen) in Sicherheit zu bringen.
Die Union muss darauf drängen, Orbans Fidesz aus der Europäischen Volkspartei auszuschließen
Um glaubwürdig zu sein, sollte Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen. Wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum 8. Mai sagte: „Heue müssen wir uns selbst befreien. (…) Von der Faszination des Autoritären.“ Das heißt zunächst einmal, zur Pandemiebekämpfung notwendige Einschränkungen der Freiheit schnellstmöglich aufzuheben und den Gegnern der offenen Gesellschaft daheim entschlossen zu begegnen. Ebenso sollten unsere demokratischen Parteien auf europäischer Ebene endlich die politischen Hygieneregeln einhalten und nicht mit Autoritären gemeinsame Sache machen. CDU und CSU müssen endlich den Ausschluss von Orbáns Fidesz aus der Europäischen Volkspartei vorantreiben. Kanzlerin Merkel hat hier bislang die unrühmliche Rolle der Wegbereiterin für Orbáns selbst ernannten „illiberalen Staat“ gespielt.
Vor allem sollten wir gerade in diesen Zeiten all denjenigen beistehen, die sich unter schwierigen Bedingungen anderswo für die Demokratie und die offene Gesellschaft einsetzen. Nicht nur sind die Räume für die Unterstützung dieser Kräfte in vielen Staaten in den letzten Jahren immer enger geworden. Jetzt sind die Räume durch Reisebeschränkungen auch physisch weit entfernt. Deshalb gilt es, neue Formate zu finden, wie man auch zeitweilig ohne Präsenz vor Ort Streitern für offene Gesellschaften beistehen kann. So können wir alle unseren kleinen Beitrag leisten, damit Corona nicht zur globalen Abbruchparty für Demokratie wird.
Thorsten Benner