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Marx, Lenin, Stalin, Mao. Und unten das Arbeitshaus der Welt, mit Stephan Vinke (Siegfried, r.) und Andreas Conrad (Mime) im „Siegfried“.
© Bayreuther Festspiele/ Enrico Nawrath

Bayreuther Festspiele: Franks Finale

Zum letzten Mal zeigen die Bayreuther Festspiele den „Ring“ des scheidenden Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf, dirigiert von Marek Janowski.

Nein, das kann er nicht! Nicht die „Walküre“. Natürlich darf man die Liebe ironisch brechen, nur ist es dann keine Liebe mehr. Es geht um Siegmund und Sieglinde, das Geschwisterpaar, das Wotan zur Entrüstung seiner Ehefrau mit Urmutter Erda zeugte. Zu Wagners und Wotans Entschuldigung sei gesagt, dass dies den Fortpflanzungsgewohnheiten polytheistischer Gottheiten durchaus entspricht.

Üblicherweise vermeiden Regisseure es zartfühlend, diese Vereinigung zu visualisieren, Frank Castorf aber dachte im „Rheingold“ gar nicht daran. Im weißen Pelzmantel fiel „der Welt weisestes Weib“ direkt in den Gott – folgt der Inzest von Siegmund und Sieglinde. Vor Ernst von Piddes Buch „Wagners Musikdramen im Licht des deutschen Strafrechts“ hat eigentlich niemand Anstoß daran genommen. Wie denn auch, bei dieser Musik?

Nylund und Ventris singen die Regie an die Wand

Castorf setzt das Paar bei miserabler Beleuchtung unter einem alten Bohrturm aus, das ist Hundings neue Hütte, und Öl ist das neue Gold. Um Gold führt keiner mehr Kriege, um Öl schon. Nur die Musik will nicht passen, der Turm bleibt Illustration. Aber Liebenden ist gewöhnlich egal, wo sie sind, und Camilla Nylund und Christopher Ventris singen mit Stimmen, durchsichtig bis auf den Grund, die Regie an die Wand. Kristallklar füllen sie noch bei den leisesten Tönen den Riesenraum, aufgefangen von einer hörbaren 2000-Mann-Atemlosigkeit des Publikums. Es ist jene Wagnersche Musik der Schmerzlust, des Lustschmerzes, die alle Bühnenmeisterei der Welt hinter sich lässt, auch die Castorfsche.

Zu diesem Kern der Wagnerschen Musik findet Frank Castorf, dieser Virtuose der eher quantitativen Liebe, keinen Zugang. Und über „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ ein Video mit Torte fressender Frau und Wotan am Telefon zu legen, ist ruchlos. Hier ist die Leinwand im Theater wieder mal Service für den hyperaktiven Zuschauer mit habitueller Aufmerksamkeitsstörung. Aber solche sind in Bayreuth eher selten.

Für lange Zwiegespräche hat Castorf keine Geduld

Der Schwede John Lundgren als Wotan und die in Weimar lebende Britin Catherine Foster als Brünnhilde übernehmen den Staffelstab kongenial von dem Geschwisterpaar. Die Sänger, das Hochpräzisionsinstrument Orchester unter dem sensitiven, unbeirrbaren Marek Janowski sowie Wagners Musik lassen die Regie dastehen wie eine einzige große Ratlosigkeit. Selbst als Walkürenfelsen will der Bohrturm nicht taugen. Den Sängern eine leibliche Rhythmik zu geben, die welteröffnende Geste in ihre Unendlichkeits-Zwiegespräche zu legen, dazu hat Castorf keine Geduld. Und doch ist da eine absolute Sicherheit der Hintergründe. Als Siegmund das Schwert aus der Weltesche – im Bohrturmschuppen – zieht, erscheint plötzlich der kyrillische Schriftzug „Prawda“, Wahrheit, gefolgt von Bildern des agitierenden Lenin. Ein schräger Effekt? Vereinzeltes verzeihendes Lachen im Publikum, und doch ist es sehr genau gedacht.

2017, das sind 200 Jahre Karl Marx und 100 Jahre Oktoberrevolution. Castorf hat beide tief in den „Ring“ hineingesenkt, oder anders: Er stellt bis zur Überdeutlichkeit aus, was längst darin war. Spätestens seit dem „Ring“ von Chéreau/ Boulez ist es kein Geheimnis mehr, dass die Urgeschichte des 19. Jahrhunderts und der westlichen Welt in der Tetralogie steckt.

Siegfried repräsentiert die Arbeiterklasse

Aber Castorfs Zugriff ist anarchischer, rücksichtsloser, räudiger gleichsam. Der Anarchist und Hofkapellmeister Richard Wagner, der während der Dresdner Revolution 1848/49 persönlich eine beträchtliche Zahl Handgranaten beim örtlichen Gelbgießer Oehme bestellte, hätte vermutlich den verwandten Geist erkannt. Wagner und Castorf eint das tragische Bewusstsein, dass sie nicht an die historische Mission der Arbeiterklasse glauben. Aber sie nehmen sie ernst, ganz ernst.

Die Arbeiterklasse bei Wagner ist Siegfried, der Mensch, der frei „sich selbst erwuchs“ – anders als der gebundene Wotan. Nietzsche nannte es die „Unschuld des Werdens“. Siegfried ist das revolutionäre Subjekt an sich, das die Augen bereits in der „Walküre“ aufschlägt, als Siegmund das Schwert aus der Weltesche zieht.

Wagner und Castorf, zwei tendenzielle Orgiastiker, die gezügelt werden von ihrem präzisen Sinn für Ambivalenzen. Das Befreiende ist zugleich das Vernichtende, so wie das Walhall-Motiv das umgekehrte Fluch-Motiv ist. Und selbst die Vernichtung birgt ein Moment des Befreienden. Beim großen Abschied Wotans von der ungehorsamen Brünnhilde kommt aus dem Riesenschuppen eine alte Ölförderpumpe gefahren, mit einem Schild, alles vom Gleis – des Fortschritts – zu räumen, was sich ihm in den Weg stellt. Dann beginnt sie ihr monotones Auf und Ab, so unerbittlich wie Wotan sein Urteil über die Lieblingstochter fällt. Doch nach Wotans „Erwarte dein Los!“ steht die Pumpe plötzlich still.

2018 wird nur noch die "Walküre" gezeigt

Einen Augenblick lang steht die tödliche Logik der Geschichte still, ist der Verhängniszusammenhang außer Kraft gesetzt. Wotan zeigt etwas, was das beginnende Industriezeitalter nicht kennt: Erbarmen. Der Vater geht noch einmal auf seine Tochter zu, ein bisschen mehr, als Väter gewöhnlich auf Töchter zugehen, und wir verzichten an dieser Stelle darauf, dies im Licht des deutschen Strafrechts zu betrachten. Auch Catherine Foster und John Lundgren gelingt es, gemeinsam mit dem Orchester singen sie sich in eine Apotheose der verzichtenden Liebe hinein, des liebenden Verzichts. Dabei lesen wir am Bohrturmmoloch Nachrichten aus dem großen Vaterländischen Krieg, natürlich auf Russisch. Wie viele Tonnen Kohle die heldenhaften Kumpel der Sowjetunion 1943 gefördert haben oder fördern sollten, und: Nieder mit Hitler! Nicht nur die Revolution frisst ihre Kinder, auch das Gebot der Stunde, in die man hineingeboren ist: Brünnhilde bezahlt schwer für ihre freie Tat, Brünnhilde ist überall.

Steht die „Walküre“ deshalb 2018 noch einmal auf dem Programm in Bayreuth? Ein Novum auf dem Grünen Hügel: dass nach den üblichen fünf Jahren „Ring“ ein einzelner Abend augeklinkt und „nachgespielt“ wird.

Siegfried ist hier ein gestörtes Naturkind

Es ist dann der nächste Abend, „Siegfried“, an dem die Regie nicht mehr der Musik unterliegt. Mount Rushmoore über Nibelheim: Aleksandar Denic, der für Emir Kusturica „Underground“ ausstattete, übertrifft Fasolt und Fafner als Großbaumeister. Doch in diesem „Heiligenschrein der Demokratie“ stehen statt der vier riesigen US-Präsidenten-Köpfe die Gesichter von Marx, Lenin, Stalin und Mao, der vier Hauptanwälte Nibelheims, des Proletariats. Sie schauen herab auf das Arbeitshaus der Welt in Gestalt eines metallenen Panzerlurchs, der vielleicht mal ein VW-Bus war. Der Heiligenschrein der Diktatur? Marx sieht meist aus, als sei er auf einem Auge blind, Stalins Augen sind Löcher, Weltabgründe. Die Aktion ist zurück, Castorf ist zurück. Dennoch bleibt „Siegfried“ hinter der „Walküre“ zurück.

„So starb meine Mutter an mir?“ Siegfried ist nicht grob, er ist grobzart, Stefan Vinke verfügt über die Kraft Siegfrieds und dessen schlechtes Betragen. Aber die Zartheit, das Spielerische, die „Unschuld des Werdens“, kurz: die Geschmeidigkeit des Ausdrucks hat er nicht. Die braucht er auch nicht, glaubt Castorf, für ihn ist Siegfried ein gestörtes Naturkind, ein brutaler Kaspar Hauser. Spätestens an diesem Punkt gehen die Musik und Castorf verschiedene Wege. Als Siegfried in der „Götterdämmerung“ ein paar Obdachlose malträtiert und den Rheintöchtern als Vergewaltiger entgegentritt, hat man ihn längst aufgegeben.

Woten und Castorf - zwei Untergeher

Statt für die unverfälschte Fülle menschlicher Möglichkeiten steht er für das, was leider zu oft aus uns wird. Aber „Siegfrieds Trauermarsch“ weiß es anders. Der scheidende Volksbühnen-Intendant Castorf bringt es in Bayreuth fertig, zu dieser Musik die Neonreklame vom VEB Chemische Werke Buna zu zeigen: „Plaste und Elaste aus Schkopau“ – wir dürfen die Öl-Spur nicht vergessen. Aber das ist längst nicht mehr lustig.

Wann schlug Castorfs Regie zum letzten Mal Funken? Vielleicht, als er Siegfried statt in der Waldeinsamkeit auf dem Berliner Alexanderplatz der achtziger Jahre aussetzte, in der Mitte die Weltzeituhr mit ihren Planetenbahnen. Sie zeigt an, was die Weltstunde geschlagen hat. Aus der früheren Fassade des ZentrumWarenhauses strömten die DDR-Konsumbürger in ihrer ganzen Unschuld. Das „Zentrum“ als Fafners Hort: „Ich lieg und besitz, lass mich schlafen“. Weltpause des Konsums, Unterbrechung der Selbstverwertung des Kapitals. Und zugleich: Geburt des Konsums als Utopie. Umwerfend auch das Waldvöglein (leider nicht stimmlich): ein schräger Vogel, ein Glitzerpunk der späten DDR-Jahre, fremd in der Welt der alten Kommunisten. Und die abgründig-frivole Orgie Erdas und des Streuners Wotan auf dem Alexanderplatz. Wenn Nadine Weissmann als Waldvöglein es nur geschafft hätte, das zu übersingen! Ein Gladiatorenkampf Regie gegen Musik kann grandios sein, und in seinen besten Augenblicken ist dieser „Ring“ genau das.

Kein Regenbogen diesmal überm Festspielhaus wie am Abend nach dem „Rheingold“. Wotan und Castorf, zwei Untergeher, zwei Burglose, vom „Rheingold“ her betrachtet. Doch anders als Wotan, der die Scheite der Weltesche selbst um Walhall schichtet, um mit ihm unterzugehen, verließ Castorf seine Berliner Burg auf einer Regenbogenbrücke beispielloser Anteilnahme. Was ist besser, als eine Burg zu haben? Jeder Anarchist weiß das: keine Burg mehr zu haben.

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