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Wenn die Fans von Marine Le Pen ins Theater gehen, klatschen sie auch schon mal für Brechts großen Diktator Arturo Ui.
© AFP/ Loic Venance

Vor der Präsidentschaftswahl: Frankreichs Künstler verlieren den Anschluss an Politik und Publikum

Was tun, wenn die Zuschauer im Theater Brechts Ironie nicht mehr erkennen und Arturo Ui gut finden? Ein Blick auf die Kulturszene vor der Präsidentschaftswahl.

In einer Seitenstraße der Champs-Élysées leuchtet ein Plakat in der Dunkelheit. Es hängt über dem Eingang zum Théâtre du Rond-Point und fordert den Besucher dazu auf, der Katastrophe mit der verblüffenden Reaktion zu begegnen, dass man nur wenig Angst vor ihr hat. Das Zitat aus Victor Hugos „Die Elenden“ ist eine der Trostbotschaften, die Frankreichs Kulturszene vor der Präsidentenwahl am 23. April bereithält.

Drinnen wird ein Stück der Wahlberlinerin und Goncourt-Preisträgerin Marie NDiaye gespielt. „Honneur à notre Élue“ (Ehre unserer Wahlsiegerin) ist eine Wahlkampffabel mit einer jungen, erfolgreichen Lokalpolitikerin als Hauptfigur, die ihre Karriere an den Nagel hängt, um sich einer Lebenslüge zu stellen.

Mit hintersinnigem Humor porträtiert NDiayes kleine moralische Geschichte einen „Anti-Fillon“, eine nicht korrupte politische Figur, und feiert, leise ironisch, die Rückkehr der Realität in die Wahrnehmung einer Politikerin. Dass dies in Wahrheit mit einer politischen Karriere inkompatibel ist und die Frau ihren Erfolg letztlich den Projektionen und Fantasien des Wahlvolks verdankt, gehört zu den hilfreichen Erkenntnissen des von Frédéric Bélier-Garcia inszenierten Stücks.

François Fillon, der immer neue Skandalmeldungen produzierende Kandidat der traditionellen Rechten in Frankreich, hat nicht nur Marie NDiaye inspiriert. Auch der neue Leiter des ehrwürdigen Theaters Odéon, Stéphane Braunschweig, sieht in Fillons Verhalten eine Steilvorlage für die Bühne: „Wir brauchen ein Theater, das die Augen öffnet, denn wir leben in einer Welt der permanenten Wirklichkeitsleugnung. Fillon streitet und wehrt alles ab. Er merkt nicht einmal mehr, dass ihn inzwischen alle für einen Verrückten halten.“

In der "uberisierten" Gesellschaft wird jedem alles zugetraut

Für den Zerfall gesellschaftlicher, kultureller und menschlicher Verbindlichkeit wird in Frankreich gerne die classe politique verantwortlich gemacht. Kaum jemand traut ihr noch integres Verhalten zu. Vertrauen genießen Menschen nur jenseits der politischen Sphäre – weshalb sogar einem beliebten, medienaffinen Philosophen eine Kandidatur angetragen wurde. Aber Michel Onfray, Begründer der Volksuniversität in der Normandiestadt Caen, lehnte dankend ab, nannte das Ansinnen ein Beispiel für die „Uberisierung“ der Gesellschaft und spottete darüber, dass jedem alles zugetraut wird: Erst Taxifahren? Dann Chirurg? Pilot? Präsident?

Eine Kulturalisierung der politischen Sphäre mahnt Ariane Mnouchkine an, Chefin des legendären Théâtre du Soleil. „Die Politiker wissen nicht, dass auch das, was sie tun, eine Form braucht. Wir haben es heute mit einer völlig formlosen, banalen, hoffnungslosen Variante von Politik zu tun.“

Für den vollständigen Formverlust steht derzeit der amerikanische Präsident. Nach der Wahl von Donald Trump und nach dem Brexit-Votum findet der französische Wahlkampf vor einem düsteren Historiengemälde statt, in dem als Menetekel auch noch die Möglichkeit einer Präsidentin Marine Le Pen aufscheint. Ihr Front National sieht Kultur nicht mehr als staatliche Aufgabe, will die Subventionen zurückfahren und die Kulturarbeit einem Volks-Mäzenatentum überlassen.

Der Front National hat Angst vor der Kultur

Man kann es sehen in jenen Kommunen, in denen der Front National regiert. Seit den 90er Jahren wurden vor allem im Süden des Landes Kulturhäuser geschlossen oder deren Leiter durch willfährige Strohmänner ersetzt, Bibliotheken bei Neuerwerbungen zensiert und vieles mehr. „Der Front National hat Angst vor der Kultur“, sagt Stéphane Braunschweig.

Im vom FN-Bürgermeister und Wahlkampfkoordinator David Rachline regierten Côte-d’Azur-Städtchen Fréjus haben sich Ende Februar Künstler und Intellektuelle zusammengeschlossen, ihr „Appell von Fréjus“ warnt vor den Folgen eines Sieges von Marine Le Pen. Betrübt sind Frankreichs Künstler aber auch darüber, dass die Kultur in keinem Programm eines Präsidentschaftskandidaten eine wirkliche Rolle spielt. Bei der ersten großen Fernsehdebatte der fünf Spitzenkandidaten wurde sie nicht mal am Rande erwähnt.

Und dort, wo noch intakte Kulturhäuser bestehen, ändert sich das Zuschauerverhalten. Dominique Pitoiset, der bereits an der Schaubühne inszeniert hat, erlebt dies derzeit bei seiner Frankreichtournee mit Brechts Stück vom „Aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui“. Es gibt, gespenstisch genug, Beifall von der falschen Seite. „Wir sind in diversen kleinen Provinzstädten auf Tournee, in denen viele die extreme Rechte gewählt haben. Das Publikum hat nichts gegen die Sprüche eines Arturo Ui. Sie werden beklatscht.“

Der Fiktionsvertrag zwischen Bühne und Publikum scheint aufgekündigt

Wenn die Fans von Marine Le Pen ins Theater gehen, klatschen sie auch schon mal für Brechts großen Diktator Arturo Ui.
Wenn die Fans von Marine Le Pen ins Theater gehen, klatschen sie auch schon mal für Brechts großen Diktator Arturo Ui.
© AFP/ Loic Venance

Voller Schrecken musste der Regisseur feststellen, dass die Kontaminationsgefahr eines realistischen, politischen Theaters durch die Wirklichkeit und die Virulenz rechten Gedankenguts so groß ist, dass der Schauspieler auf der Bühne mit dem Politiker auf dem Wahlkampfpodium verwechselt wird. Der alte Fiktionsvertrag zwischen Bühne und Publikum scheint aufgekündigt zu sein. Das Chaos der Welt erweist sich nicht zuletzt in einer kognitiven Zerrüttung.

Ariane Mnouchkine erhofft sich dennoch eine gewisse Autonomie der Kunst. Auf der Webseite des Théâtre du Soleil war bis vor Kurzem eine bedeutungsschwere Frage zu lesen: „Wie können wir vom Chaos der Welt sprechen, ohne ein Teil von ihm zu werden, also ohne all dem weiteres Chaos hinzuzufügen?“ Wie kann die Kunst immun bleiben gegen den Virus des gesellschaftlichen Verfalls? Wie überall in Europa haben rechte Wähler mit den als etabliert und systemtragend diffamierten Institutionen gebrochen. Viele sehen auch die Kulturszene als Teil des Establishments.

Die Entfremdung hat Gründe, die den mit Theaterarbeit in der Provinz vertrauten Pitoiset zu vorsichtiger Kollegenschelte veranlasst. „Nur wenige Künstler schauen sich auf dem Feld der Politik um. Manchmal erscheint es uns wichtiger, an der eigenen Kunst zu arbeiten, als uns der Realität zu stellen. Deshalb ist das, was in den Theatern passiert, oft völlig abgetrennt von der Wirklichkeit in den Kommunen.“ Pitoiset plädiert für die Verankerung der Künstler im Kontext der Provinzstädte und für eine Abkehr vom Pariser Zentralismus und dem internationalen Tourneebetrieb.

Der Philosoph Bernard Stiegler sieht die gesamte Kultur- und Medienlandschaft Frankreichs in der Pflicht, sich neu zu definieren. Die Situation sei der von 1933 vergleichbar. Bereits vor Jahren hatte er sich in „La Pharmacologie du Front National“ mit wechselseitigen Schuldzuweisungen befasst und mit der gesellschaftlichen Malaise, die zum Erstarken der rechten Bewegungen führt. „Wir sind nicht mehr in der Epoche von Malraux. Wir brauchen eine neue Volkswirtschaft des Wissens. Wie in der griechischen Antike und bei Bertolt Brecht muss die Kultur die Neuerfindung der Gesellschaft betreiben.“

Laut Stiegler führt auch die Digitalisierung zum Zusammenbruch sozialer Verbindlichkeit. Er sieht ein systemisches Nichts entstehen, das namenlose Gewalt provoziert. Aus den digitalen Konsumenten müsse wieder der Amateur werden, der Liebhaber einer kulturellen Sinnstiftung.

Nur informierte Bürger können vernünftige Entscheidungen treffen

Auch der Theaterveteran Jean-Pierre Vincent, Regisseur zahlreicher gesellschaftskritischer Inszenierungen, beobachtet in den sozialen Netzwerken, auf Facebook und Twitter, die Erosion der traditionellen, politischen, vertikal verlaufenden Kommunikation. Das neue Phänomen der horizontalen Kommunikation sei weder von der politischen Klasse noch vom Kulturbetrieb bislang wirklich verstanden worden. Der Bruch verbindlicher Übereinkünfte zwischen einer rapide verarmenden und von Terroranschlägen erschütterten Gesellschaft und ihrer kulturellen Repräsentation ist mit schnellen und einfachen Rezepten nicht zu heilen.

Die Künstler müssen dabei helfen, eine bedrohte historische Kulturleistung der westlichen Welt, die Demokratie, vor dem Untergang zu bewahren. Und mit ihr die politische Vernunft, ein Kind der europäischen Aufklärung. „Die Politiker verachten die Staatsbürger. Sie appellieren nicht an deren Vernunft, sondern an niedere Instinkte. Wollte man an ihre Vernunft appellieren, müsste man sie zuvor informieren. Wirklich informieren! Auch wir Künstler arbeiten mit Emotionen. Wie schaffen wir es, sie nicht zu pervertieren?“

Mnouchkine nennt als Beispiel das Mitgefühl, das uns befähigt, den Schmerz des anderen nachzuempfinden. Ohne Mitgefühlt ist auch gute Politik nicht denkbar. Kultur käme so gesehen die Aufgabe zu, die Schäden zu beheben, die die Gegenwart bei den Menschen anrichtet, beim Verhältnis zwischen Gefühl und Ratio. Dieses Verhältnis ist eine eminent politische Angelegenheit. Nur wenn Emotion und Vernunft im Lot sind, kann die Angst überwunden werden, von der Victor Hugo sprach.

Eberhard Spreng

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