zum Hauptinhalt
Familienkomplex. Sigmund Freud analysierte auch die eigene Tochter Anna. Neun Jahre lang, in fünf bis sechs Sitzungen pro Woche. Anna wurde später Kinderanalytikerin. Unser Bild zeigt die beiden 1938 bei der Ankunft in Paris, auf dem Weg ins Exil.
© akg-images/p-a

Freud-Analyse: Runter von der Couch

Der Anti-Freud: Der Philosoph Michel Onfray spricht Sigmund Freud jede Seriosität ab. Onfrays Polemik, ein Bestseller in Frankreich, ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Nichts geht mehr in Ollioules, einem Küstennest nahe Toulon, die Straßen verstopft, alle Parkplätze überfüllt. 900 Leute lässt man in die örtliche Sporthalle. Um weiteren Andrang abzuwehren, kommt die Polizei. Kein Jahrmarkt, keine Messe, es treten auch keine Popstars an diesem Abend auf, lediglich zwei Intellektuelle zum Thema „Kritik und Verteidigung der Psychoanalyse“. Der eine ist Boris Cyrulnik, einer der bekanntesten Verhaltensforscher und Psychiater Frankreichs. Eingeladen hat er Michel Onfray, dessen „Anti- Freud“ sich 2010 in kürzester Zeit auf Platz eins der französischen Bestseller- Listen katapultiert hat. Vergangene Woche ist das Buch auf Deutsch erschienen.

Was in Frankreich so gut ankommt, ist Onfrays Verve, mit der er seine Kritik vorträgt, und die glasklaren Worte, mit denen er die Dinge beim Namen nennt. Sigmund Freud, ätzt der 1959 in der Normandie geborene Philosoph, sei ein homophober Phallokrat gewesen, dessen Theoriegebäude auf abstrusen Aussagen fuße wie etwa der Annahme eines Penisneids bei Frauen oder der Beurteilung von Homosexualität als Unterbrechung einer normalen Entwicklung. „Freud ist kein Wissenschaftler“, schreibt Onfray. Er habe „nichts Allgemeingültiges vorgebracht, und seine Lehre ist ein auf seine Hirngespinste, seine Obsessionen und sein vom Inzest gequältes und zerfressenes Innenleben zugeschnittenes Konstrukt“.

Das klingt aufrührerisch und will es auch sein. Dass Michel Onfray bloß behauptet und nicht nachweist, kann man ihm dabei nicht vorwerfen. Auf den 544 Seiten seiner Freud-Analyse belegt er Aussage für Aussage mit Zitaten aus Briefen und anderen Schriften. Seine Schlussfolgerungen sind kühn, müssen deshalb aber nicht falsch sein. Und es tut ihnen auch keinerlei Abbruch, dass der Autor mit seinen Zuspitzungen sein Publikum zum Lachen bringt. Etwa wenn er das Paradoxon vorträgt, dass Freud eine Methode entwickeln wollte, die für die gesamte Menschheit gültig sei – außer für ihn selbst. In Wahrheit sei es genau umgekehrt: Die Psychoanalyse, so Onfray, eigne sich, um Freud zu verstehen – „und zwar nur ihn“.Damit gesellt sich Onfray zu Nietzsche, der den Philosophen vorwirft, Wahrheiten zu deklarieren, wo doch alle Philosophie autobiografisch bestimmt sei. Dass Freud, der jeden Einfluss Nietzsches „verdächtig kategorisch“ abgestritten habe, damit nicht einverstanden wäre, stört Onfray nicht. Freud habe sich als wissenschaftliches Genie gesehen, in einer Reihe mit Kopernikus, der gezeigt habe, dass sich der Mensch nicht im Zentrum des Universums befinde, und mit Darwin, dessen Evolutionstheorie den Menschen als Affenabkömmling präsentierte. Als dritte Kränkung des Menschen habe Freud die Entdeckung des Unbewussten betrachtet, die er zu Unrecht als seine ureigene dargestellt habe.

Michel Onfray spricht Freud auch jede Seriosität ab. „Freud hat viel gelogen, kaschiert und an seiner eigenen Legende gearbeitet“, geldgierig und ruhmversessen habe er Ergebnisse gefälscht und Patienten erfunden, Heilungen vorgegeben, wo er bloß Schaden angerichtet habe. Onfray recherchierte, dass der Wiener Doktor, der seine Patienten mehrmals pro Woche einbestellte, im Jahr 1925 umgerechnet 415 Euro für eine psychoanalytische Sitzung verlangt habe. Was Freud dabei vermittelte, habe er samt und sonders von seiner eigenen „inzestuösen Leidenschaft“ abgeleitet und darauf fantasievoll sein Theoriegebäude aufgebaut. „Weil er selbst inzestuöse Neigungen hatte, vermutete er den Inzest überall.“

Onfray belässt es nicht dabei, dass der als Sigismund geborene Junge offenbar mit einer recht schrägen Beziehung zu seiner jungen Mutter Amalia zu kämpfen hatte. Wie ein Detektiv sammelt der Autor akribisch Beweise – etwa dass Freud einst ein Hotelzimmer für „Dr. Sigmund Freud und Frau“ anmietete, als er mit Minna, der Schwester seiner Frau, auf Reisen war. Oder dass Minna, die auch im Hause Freud wohnte, ihr Badezimmer nur über das eheliche Schlafzimmer erreichen konnte. Oder die intellektuelle Vergewaltigung der Tochter Anna. Entgegen Freuds eigenen Anweisungen, niemals Familienmitglieder oder nahe stehende Personen zu analysieren, quälte er seine jüngste Tochter bereits als Jugendliche und, wie Onfray ausgerechnet hat, neun Jahre lang mit fünf bis sechs Sitzungen pro Woche. Anna wurde später Kinderanalytikerin.

So hat Freud Onfray zufolge ein wahres „Gruselkabinett“ geschaffen, mit Fantasiegebilden wie Trieb, Libido, Unbewusstem, Ödipus, Urhorde, Vatermord, Verdrängung, Sublimierung, Neurose etc. Die Wissenschaft zehrt bis heute davon.

Michel Onfray lehrte zwanzig Jahre lang Philosophie am Gymnasium, bevor er aus dem Schulsystem ausbrach und 2002 in Caen seine eigene Universität gründete. Boris Cyrulnik, eine Generation älter als Onfray und Studiendirektor an der Universität von Toulon, hält ihm nun vor und entgegen, dass die Psychoanalyse nachweislich heilende Wirkung haben könne. Der ungestüme Normanne ist um eine Antwort nicht verlegen – man brauche bloß in eine kleine Kirche irgendwo auf dem Land zu gehen und finde dort in den Dankbezeugungen an die Jungfrau Maria ebenfalls zuhauf Nachweise, dass sie geholfen habe. „Die analytische Theorie“, so Onfray, „ist ein Ausläufer des magischen Denkens. Sie wirkt ausschließlich durch den Placebo-Effekt.“ Den Psychologismus nennt er eine säkulare Religion: Freuds Couch, in Frankreich als Diwan bekannt, habe „dem Patienten einen sicheren Platz in einer zunehmend haltlosen Welt“ versprochen.

Onfray weiß allerdings auch, dass dieser Diwan ein mächtiges Möbel ist. Freud prägt, trotz aller veröffentlichten Kritik, das Denken der westlichen Welt. „Die Psychoanalyse ist heute Teil des kollektiven Bewusstseins“, sagt Onfray, und er ist der Junge, der ausspricht, was sonst keiner wagt: Der Kaiser ist nackt. Die Psycho-Szene jault völlig zu Recht auf: Wenn Freud stürzt, könnte auch der Diwan und damit die Existenzberechtigung der ganzen Kaste umfallen. Onfray hat der bequemen Einrichtung einen mächtigen, überfälligen Tritt versetzt. Denn eigentlich geht es nicht um Freud, sondern darum, dass der Patient auf seine Füße fällt.

Michel Onfray: Anti-Freud. Die Psychoanalyse wird entzaubert. Aus dem Französischen von Stephanie Singh. 544 S., Knaus München 2011, 24,99 €

Gudrun Mangold

Zur Startseite