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Mnouchkines „Ein Zimmer in Indien“
© Michele Laurent

Pariser Théâtre du Soleil: Schwarze Sonne

Kann das Theater den Schrecken der Gegenwart trotzen? Ariane Mnouchkine und ihr Théâtre du Soleil befragen sich selbst in „Une Chambre en Inde“.

Cornélia schläft schlecht. Sie ist die Assistentin eines Theaterdirektors, der ihr in einer schwer verständlichen Videobotschaft mitgeteilt hat, dass er sich zurückzieht und die Verantwortung für sein Theater nunmehr ihr überlässt. Verzweifelt hat sie sich aufs Bett geworfen, sie würde gerne schlafen und die Welt sich selbst überlassen. Aber plötzlich stürzen zwei indische Polizisten in den Raum und teilen ihr mit, der Direktor sei splitternackt mit einer Ginflasche in der Hand auf der Schulter einer gewaltigen Gandhi-Statue aufgefunden worden und befinde sich nun in Polizeigewahrsam. Wenig später schwirrt ein No-Spieler mit langem Bart und Lendenschurz herein und spielt eine Schlüsselszene aus Shakespeares „King Lear“ mit Tochter Cordelia auf Japanisch nach, jene Szene, in der Cordelia dem Vater mit allzu nüchternen Worten ihre Tochterliebe versichert. Was Lear ihr bekanntlich nicht glaubt.

Die von Hélène Cinque gespielte, hochnervöse Cornélia, eine Cordelia der anderen Art? Der abdankende Theaterdirektor, eine spirituelle Vaterfigur, heißt jedenfalls Constantin Lear. Ohne Umschweife wird dieses französisch-englisch-japanisch-tamilisch-arabischsprachige Welttheater zum Spiel der symbolischen Doppeldeutigkeiten, das in einen wahren Strudel der Themen und Motive gerät. Indien, das gegenwärtige Chaos der Welt, das Theater und seine Grenzen, Mythos, Traum, Realität, hier vermischt sich alles auf fulminante Weise:„Une Chambre en Inde – Ein Zimmer in Indien“ heißt die jüngste Produktion von Ariane Mnouchkine und ihrem Théâtre du Soleil in Vincennes vor den Toren von Paris.

Ariane Mnouchkines theatralisches Selbstporträt

Das Theater in der Krise, Revision einer Legende in eigener Sache: Noch nie sah man die mittlerweile 77-jährige Ariane Mnouchkine so unverhohlen an einem theatralischen Selbstporträt arbeiten, an einer Betrachtung der eigenen Rolle, der eigenen Grenzen. Ein Selbstbildnis, eine Art erstes Vermächtnis: Es sieht so aus, als würde Frankreichs Ausnahmezustand nach den Anschlägen von Paris vor einem Jahr, als würde die aus der Normalität gefallene Gegenwart das gute alte Theater überfordern. Also erzählt es davon.

Das südindische Theru Koothu ist eine traditionelle Form des Straßentheaters, bei dem in langen Nächten aus dem Mahabharata-Epos erzählt wird. Mnouchkine lernte es bei einem Indienbesuch kennen und war fasziniert – was einen Workshop ihrer Pariser Theatertruppe in Puducherry in der südindischen Provinz Tamil Nadu nach sich zog. Das Erlernen des Thoru Kootu sowie die dort durchgeführten Improvisationen bilden das Grundmaterial des neuen Stücks. Wobei der Titel „Ein Zimmer in Indien“ allenfalls auf die Rahmenhandlung verweist, auf den Albtraum der von der Kunst wie der Welt überforderten Theaterarbeiterin. Ihre besten Helfer findet sie in den glorreichen Ahnen der Bühnenkunst. Etwa in dem No-Darsteller, der einen aggressiven indischen Immobilienspekulanten mit seinem kleinen Schwert niederstreckt, bevor dieser das alte Gasthaus niederreißen kann. Dort nämlich bietet Madame Murti den europäischen Theaterleuten Obdach.

Versuche der Gegenwartsaneignung

Nirupama Nityanandan, die einst als berauschende Iphigenie ins Kollektiv und der Cartoucherie kam, spielt die moderne Dame, die sich der Zudringlichkeiten sowohl fundamentalistischer Hindus als auch der Islamisten erwehren muss. In mitunter karikaturhafter Figurenzeichnung wendet Mnouchkines Kompagnie in vielen kleinen, raschen, mit groben Strichen gezeichneten Szenen das Schreckliche ins Groteske, das Barbarische ins Lächerliche: IS-Anhänger wollen ein Propagandavideo drehen, aber ihr Protagonist verwechselt ständig die Wörter und macht seine wahren, unislamischen Gelüste mit Freud’schen Fehlleistungen erkennbar. So wie einst die Stars des Slapsticks jedes Problem ihrer Zeit mit ein, zwei komischen Einfällen parierten, so erledigt das Théâtre du Soleil das Problem mit dem IS und mit Terroristen jedweder Couleur mittels Umschlag ins Lächerliche. Jeder Gotteskrieger ein Hanswurst.

All das ist wohlgemerkt Theater im Theater, sind Versuche der Gegenwartsaneignung von Cornélias Theatertruppe. Unschwer ist darin auch ein Spiegelbild des Théâtre du Soleil zu erkennen. Mit flatternden Nerven den Stürmen des 21. Jahrhunderts ausgeliefert, findet es Trost nur im indischen Straßentheater, dessen ferne Geschichten nicht weniger blutig waren als unsere Gegenwart, dessen berauschende Farben, Kostüme und Gesänge den Schrecken jedoch mithilfe einer mächtigen Formensprache bannen konnten.

"So darf es nicht enden"

Hilfe muss auch noch Anton Tschechow leisten, der mit Schnurrbart und Arzttasche hereinschneit, Cornélia den Puls fühlt und über berühmte Regisseure mit ihr plaudert, Stanislawski, Peter Stein, Giorgio Strehler. Die Aufführung beschließt ein zum Humanismus bekehrter IS-Kämpfer mit Schnurrbärtchen, der Chaplins berühmte Rede am Ende des „Großen Diktators“ rezitiert. Zweimal erschießen die IS-Kumpanen den Redner. „So darf es nicht enden“, schreit Cornélia, beim dritten Mal werden die Killer von den Schauspielern überwältigt und die Hoffnung darf überleben.

Genügten die großen falschen Worte, wie sie der eitle Lear verlangt, alles wäre in Ordnung. Cornélia und das Sonnentheater bleiben lieber bei den einfachen, ehrlichen Gefühlen. Bei Shakespeare war es eine Tragödie.

Théâtre du Soleil, 75012 Paris, Spieltage Mi–So. Infos: www.theatre-du-soleil.fr

Eberhard Spreng

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