"Fatzer" im Deutschen Theater: Fit for Dialektik
Das Lehrstück als Karaoke: Bertolt Brechts „Fatzer“ an den DT-Kammerspielen.
Der Galgen aus der „Dreigroschenoper“, der Planwagen der „Mutter Courage“, umgebaut zur Bar: In Tom Kühnels und Jürgen Kuttners Inszenierung vom „Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ sitzt das Publikum in einer Art Brecht-Disneyland, mitten auf der Bühne der Kammerspiele im Deutschen Theater. Brecht immersiv sozusagen; Bühnenbildner Jo Schramm hat keine Devotionalie ausgelassen. Schließlich ging es beim „armen BB“ ja nie ums romantische Glotzen, sondern – vor allem in der Lehrstücktheorie – um die eigeninitiative Arbeit an der dialektischen Fitness. Beim Lehrstück sollten die Spieler selbst (politische) Haltungen einüben.
Wie das realiter aussah, führt Jürgen Kuttner, der nicht nur als Regisseur, sondern auch als gewohnt entertainiger „Spielleiter“ des Brecht-Abends firmiert, eingangs anhand eines lustigen Videos vor. Es zeigt den Regisseur Benno Besson 1976 im DDR-Glühlampenwerk Narva; im Gepäck das Brecht-Lehrstück „Die Ausnahme und die Regel“. Er sei nicht gekommen, um zu dozieren, klärt Besson die hauptsächlich weibliche Belegschaft leicht generös auf, er wolle sie bei der Erfüllung ihres „kulturellen Auftrags“ unterstützen. Befragt zu ihrer Mitmach-Motivation, geben die Arbeiterinnen reihum zu Protokoll, von ihren Chefs quasi zwangsdelegiert worden zu sein.
Sechs Jahre hatte Brecht am „Fatzer“ gearbeitet
40 Jahre später im DT sitze man nun zwar aus freien Stücken und habe ferner dafür bezahlt, sich zurücklehnen zu dürfen, berlinert Kuttner sinngemäß. Mitmachen muss man trotzdem. Der Spielleiter animiert im Laufe des Abends zum chorischen Ablesen ganzer „Fatzer“-Passagen von einer Art Teleprompter – worauf sich erstaunlich viele bereitwillig einlassen. Bemerkenswert, wie ganze Publikumschöre plötzlich relativ unbekümmert „Ich scheiße auf die Ordnung der Welt“ skandieren. Dialektik als Mitmach-Event, das Lehrstück als Karaoke: eine durchaus korrekte Analyse des Status quo.
Und der eigentliche „Untergang des Egoisten Johann Fatzer“? Ist bekanntlich harter Stoff. Sechs Jahre hatte Brecht am „Fatzer“ gearbeitet, als er die Arbeit 1932 abbrach und ein über 400-seitiges Konvolut hinterließ, aus dem Heiner Müller 1978 für die Hamburger Inszenierung von Manfred Karge und Matthias Langhoff eine Spielfassung montierte. Deren Tathergang: Fatzer desertiert mit einer Truppe Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Gemeinsam quartiert man sich beim Kameraden Kaumann und dessen sexuell unbefriedigter Gattin ein und gerät über Individualismus und Kollektivgeist aneinander. Fatzer wird final als Egoist liquidiert.
Heiner Müller nannte "Fatzer" einen Jahrhundertext
Während René Pollesch vor vier Jahren in seinem maßgeblichen „Fatzer“Kommentar „Kill your Darlings“ an der Volksbühne Brecht gedankenscharf neu vermaß, interessieren sich Kühnel und Kuttner mehr für das Lehrstück-Setting. Die Reihenfolge der Spielszenen wird eingedenk des Fragmentcharakters jeden Abend neu ausgelost; fünf Schauspieler in silberglänzenden Ganzkörperanzügen, irgendwo an der Schnittstelle von Sigmund Jähn und Michael Jackson beheimatet, spielen sie dann in allen erdenklichen Gattungen durch.
Die Szene etwa, in der die Soldaten bei der Kaumann anklopfen, wird zur Kitschmusical-Nummer: Natali Seelig windet sich als vermeintlich sexuell frustrierte Soldatengattin hochnotkomisch auf dem Kanapee, während sie betont pathostriefend „Meine Blöße ist schon verdorrt“ intoniert. Der Part, in dem Fatzer zwecks Fleischbeschaffung einem Soldaten folgt, findet hingegen auf der Warschauer Brücke statt und wird per Video eingespielt: Andreas Döhler, dessen Fatzer-Darstellung ein bisschen an den „bösen Baal, den asozialen“ erinnert, abzüglich dessen Hedonismus und dafür mit einiger Wut und echter Not im Bauch, versucht in seinem Raumanzug vergeblich, Passanten aus ihrem Gleichgültigkeitstrott zu bringen.
Eine Beratung zwischen den Kameraden Koch (Bernd Stempel), Büsching (Alexander Khuon) und Kaumann (Edgar Eckert) gerät wiederum zum lustigen Comic-Verschnitt, und zwischendurch haut die Band „Ornament und Verbrechen“ live in die Instrumente. Dank Brechts Theaterclou von der erkenntnisfördernden Verfremdung sind der Spielfantasie keine Grenzen gesetzt.
Heiner Müller nannte „Fatzer“ einen „Jahrhunderttext": Die Sprache, schrieb er, „formuliert nicht Denkresultate, sondern skandiert den Denkprozess“. Kühnels und Kuttners Inszenierung führt so unterhaltsam wie dialektisch vor, dass das mit den Denkprozessen wahrlich keine leichte Sache ist.
Nächste Vorstellungen am 17., 18., 23. und 24. November
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