Jürgen Kuttner macht Theater: Radikaler Vielsprecher
Jürgen Kuttner erklärt die Welt – das macht er nun fast ein Vierteljahrhundert lang, im Radio, in der Zeitung, auf der Bühne. Das Publikum liebt ihn. Auch für seine Ohrfeigen.
Dieses Gespräch noch, und dann ist er weg, in der Uckermark, wo man tagelang keinen Menschen trifft, höchstens Botho Strauß. Einfach von einem Hügel zum nächsten schauen und wieder zurück. Aber kann er das denn, Jürgen Kuttner, der Vielsprecher? Egal wie oft man es versucht: Kuttner lässt sich schweigend einfach nicht vorstellen.
Nebenan pfeift die Waschmaschine in jenem vorwurfsvollen Ton, in dem man anderen mitteilt, der Einzige, der hier arbeite, sei man selbst. Jürgen Kuttner nimmt einen tiefen Zug aus seiner E-Zigarette. Hinter ihm an der Bücherwand hängt ein großes Lenin-Porträt, wahrscheinlich mag er es, die Wirkung auf den Gesichtern seines Besuchs zu studieren: die notdürftig überspielte Irritation von westsozialisierten Erstgästen, das stille Lächeln der Ostler. Man müsste jetzt unterm Tisch nachschauen, was für Schuhe er trägt. Vor Kurzem saß er im Deutschen Theater auf einem Podium mit Turnschuhen ohne Schnürsenkel.
Der Mann geht auf die Sechzig zu!
Wahrscheinlich kommen ihm Schnürsenkel wie eine ganz und gar verfrühte Spielart von Verbürgerlichung vor. „Mit Geld wird schließlich auch der letzte Punk diszipliniert“, hat er mal angemerkt, als er dem Publikum das Wesen des Geldes als säkularem Gottesersatz nachwies. Mit Geld und Schnürsenkeln.
Jürgen Kuttner erklärt die Welt!
Er macht das nun schon fast ein Vierteljahrhundert lang.
Wahrscheinlich ist er einer der letzten Radikalaufklärer der Gegenwart: mit Kultstatus. Seine Video-Schnipsel-Vorträge sind überfüllt von Hamburg bis München. Er war Mitbegründer der Ost-taz und der „Bolschewistischen Kurkapelle“, nach 1990 ging der Doktor der Philosophie ohne jede Radio-Erfahrung als Alleinunterhalter auf Endlos-Sendung. Kuttners „Sprechfunk“ bei Radio Fritz, später auch im Fernsehen: So kennen ihn, den Vater der Moderatorin Sarah Kuttner, die meisten. Und irgendwann entdeckte er auch noch das Theater. Oder entdeckte das Theater ihn?
Kuttner fällt auf seinem Sofa nach hinten. Frei! Eigentlich müsste er in München sein. „Wer ich sagt, lügt schon mal!“ sollte eigentlich schon im Dezember Premiere haben. Sein drittes Regie-Stück in Folge.
Erst Heiner Müllers „Auftrag“ in Hannover, dann „Eisler on the Beach“ am Deutschen Theater und nun „Das Chamäleon: Wer ich sagt, lügt schon mal“. Aber in letzter Minute wurde ein Schauspieler krank, die Premiere verschoben, und Kuttner spürt, wie der Druck von ihm abfällt.
Die Jacob Sisters als Urszene des "Clash of Civilisations"
Er hat mal die Geburt des radikalen Islamismus „aus dem Hüftspeck des deutschen Schlagers“ erklärt: 1973 sangen die Jacob Sisters in Teheran vor der Schwiegermutter des Schahs. Die Jacob Sisters waren jenes legendäre Gesangsquartett aus Schmannewitz, Kreis Dahlen, Sachsen, das immer mit Pudeln unterm Arm auftrat, die noch blonder waren als sie. Und da standen sie nun in Kleidchen, die die zur Üppigkeit neigenden nackten Tatsachen ihrer physischen Existenz nicht nur sehr unzureichend bedeckten, nein, eher betonten. Sie sangen erst „Kalinka“, und dann sangen sie „Blowing in the wind“. Die Hymne der amerikanischen Antikriegs- und Bürgerrechtsbewegung vor der Schwiegermutter des blutigen Diktators, dessen Armee von den USA ausgestattet und dessen Geheimdienst von der CIA gefördert wurde!
Zur Eigentümlichkeit des Vortragsstils der Jacob Sisters merkte der Entdecker dieses TV-Mitschnitts an: „Das war nicht Dylan light, das war Bob without balls.“ Für Jürgen Kuttner liegt hier die Urszene des „clash of civilisations“: „Eine solche Kränkung musste früher oder später kompensiert, gerächt, wieder schlechtgemacht werden.“
Dass der Mann ein gewisses herablassendes Verhältnis zur Gegenwart unterhält, merkt jeder. Er glaubt nicht, dass sie das Denken erfunden hat, er hält sie für intellektuell nur bedingt satisfaktionsfähig: „Demokratie und Latte Macchiato“ lautet seine Formel dafür.
Aber was will er beweisen?
„Wir leben hier in einer Gegenwartsgegenwart“, sagt Kuttner. „Filmemacher Alexander Kluge sprach mal vom ,Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit’, besser kann man das nicht formulieren.“
Und er glaube, dass Menschen ohne Vergangenheit auch keine Zukunft haben. Der Sohn eines Materialkontrolleurs bei den Berliner Verkehrsbetrieben und einer Sparkassen-Hauptsachbearbeiterin war förmlich süchtig nach Vergangenheit, als er mit Anfang zwanzig von der Armee kam.
„Ich war bei den Baupionieren, das waren Vollproleten, ein asozialer Haufen.“ Kuttner sagt das mit jenem Zoll Anerkennung, das unangepasstem Verhalten immer gebührt. Und auch dass diese „Vollproleten“ mit riesengroßen Baufahrzeugen das Kasernengelände verließen, um mit nichts als einem Kasten Bier an Bord zurückzukehren, besaß durchaus Größe. Aber wie konnten diese Beinahe-Wehrdienstverweigerer im Westfernsehen – streng verboten! – Ausschnitte aus Nazi-Wochenschauen – streng verboten! – sehen und angesichts der rollenden Wehrmachtspanzer in den Ruf ausbrechen: „Das war noch eine Armee!“ Die NVA als angewandter Surrealismus.
Als Kuttner wieder Zivilist war, frei wie nie, wusste der Absolvent der Ostberliner Mathematik-Spezialoberschule Heinrich Hertz, dass er nicht, wie felsenfest geplant, Physik studieren würde. Den Physikstudienplatz hatte er schon, bevor er zur Armee musste. Er gab ihn zurück: Was er jetzt wissen wollte, wissen musste, ließ sich nicht errechnen. Er brauchte Weltbasisorientierung!
Radio als angewandte Kulturwissenschaft
In einem älteren Video-Interview sitzt Kuttner vor seiner Bücherwand, und hinter ihm schimmert ein Buch, eigentlich nur ein Buchrücken, die Schrift nicht lesbar, aber der Buchrücken ist unten schwarz, darüber ein wenig zukunftsrosa und utopieblau, und sofort war klar, was das sein musste: Wolfgang Heise, Hölderlin. Schönheit und Geschichte, Berlin 1987.
Schon Wolf Biermann hatte bei Heise studiert und ihn seinen „DDR-Voltaire“ genannt, den „wahrscheinlich einzig richtigen Philosophen der DDR“.
An einem Buchrücken einen Menschen erkennen, seinen Geist, das, was ihn prägte, sein Glück der Erkenntnis!
Undenkbar heute. Dafür gibt es schon zu viele Bücher. Aber Kuttner und Hölderlin, wirklich?
Und wo ist eigentlich der Heise? Es ist nicht höflich, ständig am Gesprächspartner vorbei in sein Bücherregal zu schauen, aber es hilft nichts. Hat er es etwa nicht mehr, hat er es mit einem Les-ich-ja-doch-nicht-mehr! weggegeben?
Weggegeben, ich, den Heise?, ruft Kuttner, niemals! Da steht er!
Und ziemlich dicht daneben die verschiedenen Hölderlin-Ausgaben. Und das hier, Kuttner springt auf, ist die „Stuttgarter Ausgabe“. Erscheinungszeitraum: 40 Jahre. Wahrscheinlich hält er das für angemessen. Kuttner, der Bibliomane.
Es ist seltsam, in der DDR wusste man, wo der Geist wehte und erkannte sich an diesem Wissen: „Kulturwissenschaften“ an der Humboldt-Universität. Er war nicht der Einzige, der dorthin wollte. Man lehnte ihn ab, er wartete. Er half inzwischen dem Märkischen Museum bei Ausgrabungen, wurde Hausmeister und Clubleiter, bis er dann doch in seinem ersten Seminar saß: Wolfgang Heise über Heiner Müller. Und später ein großes „Faust“-Seminar mit fünf Teilnehmern. Privilegierter kann man nicht sein. Darum hat er auch gleich noch promoviert, über Masse und Massenkultur.
Und eine solch akademische Existenz spricht auf einmal die Nächte durch mit Leuten, die vieles brauchen, aber eins bestimmt nicht: die Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe. Und doch: War nicht schon Kuttners Sprechfunk angewandte Kulturwissenschaft? Etwa wenn er mit seinen Hörern stundenlang die Frage diskutierte, warum einem auf dem Klo immer das Beste einfällt? Und seine Video-Schnipsel-Abende: Sind sie nicht das, was früher einmal öffentliche Vorlesungen waren? Er ist immer Forscher, Archäologe geblieben, begibt sich tief hinab in die Katakomben unseres kollektiven elektronischen Gedächtnisses, um mit ein paar Mitschnitten emporzutauchen, die anderen eher nichts sagen: bis er sie erklärt. Im Ephemeren das Zentrale entdecken! Das ist es.
Top-Spion oder absolute Null
In Weimar hat er mal eine Vorlesung zur Kulturkritik gehalten, drei Stunden am Stück. Es ist eine Frage der Intensität. Unter drei Stunden fängt er eigentlich gar nicht erst an, schon wegen des bürgerlichen Zeitbegriffs. Man soll die Zeit der anderen schonen? Im Gegenteil, erst jenseits aller homöopathischen Dosen beginnt die Einsicht!
Das Axiom des Schaffens von Dr. Jürgen Sven Bernd Rolf Ernst Maxim Kuttner hat Bertolt Brecht formuliert: „Die Wahrheit wird woanders gefunden, als wo sie gebraucht wird.“ Guter Satz. Trifft irgendwie auch auf die Gauck-Behörde zu.
Ende 1994 gestand Kuttner, zwischen 1977 und 1983 Gespräche mit der Staatssicherheit geführt zu haben. Es sei die letzte Möglichkeit gewesen, in einer Angelegenheit, in der man garantiert nicht das letzte Wort behalten wird, wenigstens das erste zu haben, sagte er damals. Die Volksbühne veranstaltete eine Art Kuttner-Solidaritätsabend unter dem Titel „Alles Stasi, außer Mutti?“. Als er die Bühne betrat, ging er unter im Beifall von tausend Leuten. Die Gauck-Behörde, die immer was fand, fand nichts. Ein wenig gekränkt war er da schon: „Entweder ich war der absolute Top-Spion oder eine absolute Null.“
Wer jung ist, bewohnt Gegenwelten. Den meisten reichte es schon, nach Westen zu blicken, ihm nicht. Konsumparadiese sind keine Gegenwelten. Er blickte paradigmatisch in den Osten, auch in den Osten der Geschichte.
"Wer ich sagt, lügt schon mal!"
Das Kuttner-Theater – er arbeitet grundsätzlich mit dem Regisseur Tom Kühnel zusammen – handelt fast immer vom Kommunismus, so, als müsse er dessen Ehre retten. Oder nein, von Kommunisten. Denn man kann wohl eine Weltanschauung widerlegen, aber keine Menschen. Doch man kann sie vergessen.
Wer kennt heute noch die Familie Eisler, von der Charlie Chaplin sagte, in ihr herrschten verwandtschaftliche Beziehungen wie in Shakespeares Königsdramen. „Eisler on the Beach“ ist das jüngste Projekt des Duos Kuttner/ Kühnel, Untertitel: „Eine kommunistische Familienaufstellung mit Musik“, immer ausverkauft. Mitwirkende: Hanns Eisler, Avantgarde-Musiker mit kommunistischen Neigungen, seine Schwester Elfriede, weltweit erste Frau an der Spitze einer Kommunistischen Partei, später kompromisslose Antikommunistin (Ruth Fischer) und beider Bruder Gerhart, kommunistischer Untergrundarbeiter. Musik: Kuttners alte Band, die „Bolschewistische Kurkapelle“.
Sie spielen Hanns Eisler, und sie spielen: Hölderlin. Eisler hat dessen „Ernste Gesänge“ vertont. Und am Schluss der Satz Hölderlins: „Wir, so gut es gelang, haben das Unsre getan.“
Und seit Januar nun München, „Wer ich sagt, lügt schon mal.“ Der Mann ohne Schnürsenkel mag das bürgerliche Publikum der großen Städte, es ist eine gegenseitige Zuneigung.
„Wer ich sagt, lügt schon mal!“ ist natürlich ein starker Titel. Von Adorno geklaut?
Ja klar, sagt Doktor Jürgen Kuttner. Heißt im Adorno-Original: „Bei den vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Er hat das nur ein wenig griffiger gemacht. Kuttner lächelt subversiv. Er mag es, dass der Satz jetzt meist ihm zugeschrieben wird. Schließlich meinen sie beide das Gleiche: Das ICH der meisten ist doch nur ein mehr oder weniger zufälliger Schnittpunkt des multimedialen Zeitgeistes, der „Kulturindustrie“, hätte Adorno gesagt. Und das will er jetzt den Bayern erklären, in einer Art Ich-Revue.
Er genießt es, dass Menschen oft, wenn sie über seine verbalen Volten lachen, eigentlich über sich lachen, ohne es zu merken. Er gibt ihnen eine Ohrfeige, und sie spenden ihm Beifall dafür. Sehr gutes Gefühl.