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Hochgerüstet. Keller des Hauptverdächtigen im Missbrauchsfall von Münster.
© dpa

Missbrauch und seine Folgen: Familien schützen lieber ihren Ruf als das Kind – mit verheerenden Konsequenzen

Sexueller Missbrauch an den schwächsten Gliedern der Gesellschaft ist ein Tabu. Doch ein neues Bewusstsein lebt von der offenen Sprache.

An der Kindheit kommt keiner vorbei. Unausweichlich beginnen Biografien mit einer Phase völliger Abhängigkeit von Erwachsenen. Deren Handlungen und Wohlwollen ist das Kind auf Gedeih oder Verderb ausgesetzt. Die Art und Weise, wie sie pflegen, nähren, wohnen, all das, was sie wollen, empfinden, glauben, sprechen, denken, bestimmt das frühe Leben des Kindes als notwendigerweise kolonisiertes Wesen. Kindheit ist die universelle Kolonie.

Hinreichend gute Eltern, Erwachsene sorgen durch ihren Beziehungsstil und ihr Vorbild dafür, dass das Kind reift, Konflikte meistert und Vertrauen in sich und andere bekommt. Aus der Kolonie Kindheit wird der wachsende Mensch von Erwachsenen allmählich in die Unabhängigkeit entlassen, möglichst bindungsfähig und autonom: Gedeih. Negative Erfahrungen wie Missbrauch und Misshandlung hinterlassen, was Traumaforschung und Neurophysiologie „Stressnarben“ nennen: Verderb.

Freud beschrieb, wie prägend Kindheit ist

Wie prägend Kindheit ist, hat Sigmund Freuds Archäologie der Seele erstmals kohärent beschrieben. Doch konnte sich der Mythos halten, Kinder würden Schlimmes „vergessen“, und darüber Gras wachsen zu lassen, sei ein Garant für die Harmonie von Familien.

Vertuschen wird dabei nobilitiert zum Schutzakt gegen das unbekömmliche Reden oder „Herumwühlen in der Vergangenheit“, das doch „nur die Familie zerstört“. Reine Rationalisierung. Denn Familie, die derlei Wahrheitsabschiebung betreibt, ist bereits zerstört, oder doch schwer gestört, und dies oft seit Generationen.

Gesellschaftlich tabuisiert wird, wider statistische Evidenz, die Tatsache, dass über neunzig Prozent der sexualisierten Misshandlungen von Kindern in Familien und im nächsten Umfeld verübt werden. Väter wie Mütter sind ebenso Tatbeteiligte wie andere Verwandte, Stiefeltern, Pflegeeltern oder Lebenspartner.

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Laut Weltgesundheitsorganisation sitzen in jeder deutschen Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder, insgesamt rund eine Million. Das Phänomen ist also endemisch. Und eine Million Kinder bedeutet: Es gibt mehrere Millionen Erwachsener, die Taten verüben oder von ihnen wissen, sie bemänteln, ermöglichen oder nicht wahrhaben wollen.

Zugleich verrät die Wucht des Tabus, dass Erwachsenen die Dimension des Unrechts bewusst ist. Sie ahnen das Ausmaß des Schadens. Dennoch schützt die seelisch verstümmelte Familie lieber ihren Ruf als das Kind. Es wird der Lüge geopfert, auch wenn es in die Sucht abrutscht, in der Psychiatrie landet oder schlicht Lernversagen zeigt.

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder perpetuiert den Kolonialismus der Kindheit. Erwachsene sabotieren damit den Prozess, mit dem Wachsende zu sich kommen sollen und wollen. Täterinnen und Täter bewirken die Erosion von Vertrauen, sie betrachten Kinder als Leibeigene, über die sie für Zwecke wie Machtlust und Profitgier verfügen.

Der Kellerraum, ein Trieblabyrinth

Meist haben sie selbst einst solche Dynamiken erlebt. Von Generation zu Generation wird die Verdrehung tradiert, bis sie sich dem internen Familiensystem als Norm ausgibt und schwerste Dysfunktionalität produziert, wie vermutlich auch im Münsteraner Fall, in den die Mutter des mutmaßlichen Haupttäters involviert sein soll. Dessen elaborierter Serverraum in einem Keller lässt sich lesen als Ausdruck für ein verdinglichtes Trieblabyrinth, in das keine Idee gelingender Beziehung mehr Einlass findet.

Wie eine Installation bildet der neonbeleuchtete, ordentliche Raum, in dem 500 Terabyte Datenmaterial verwaltet wurden, die pervertierte Logik der Serie ab, die Gewalt hier angenommen hatte. Am Körper der verdinglichten Kinder wurde diese Logik demonstriert: „So war das. So ist das. So geht das weiter.“

Parallel berichten hier die Alarmanlage und die Videoüberwachung am Tatort Gartenlaube, der Folterkammer im Münsteraner Geschehen, vom alarmierten Teil der Täterpsyche, dem die Diskrepanz zwischen sozialer Norm und Privatnorm bewusst ist. In der Laube wurde agiert, im Computerkeller codiert.

Der Chatroom im Darknet hat 1800 Mitglieder

Das Ausagieren von Macht, das für erlittene Ohnmacht entschädigen soll, setzt den Zyklus von Gewalt fort, dessen Ursachen nie Sprache werden – so sind die Taten selbst bereits die erste Verschlüsselung. Dass die Suspension des Gewissens „nur für uns gilt“ und dass Sanktionen drohen, wissen Täterinnen und Täter. Markantestes Signal ist im digitalen Zeitalter ihr Untertauchen im Darknet, wo sie einander zudem bestätigen: „Wir sind viele“. Einer der pädokriminellen Chatrooms im Fall Bergisch-Gladbach hatte allein 1800 Mitglieder.

Taten werden tausendfach begangen, Material wird millionenfach gehandelt und in Haushalten aller Milieus konsumiert. Überall, wo das geschieht, erlaubt ein soziales, familiäres Klima das Verheimlichen. Das Unvorstellbare ist ja durchaus vorstellbar, gerade darum wird es chiffriert, nicht nur im Netz, sondern auch in der Gesellschaft, vor allem dort, wo es passiert, im Sozialraum der Familien.

Erwachsene begehen Verrat an ihrer Mündigkeit

Verschlüsselung liefert auch der öffentliche Sprachgebrauch. Der „Kinderschänder“ machte dem Kind Schande, nicht sich, der „Missbrauch“ suggeriert, es gebe legitimen „Gebrauch“ von Kindern, „Kinderpornografie“ scheint von Lust zu handeln statt von Verbrechen.

Mit Verbrämen und Schweigen begehen Erwachsene Verrat an ihrer Mündigkeit – ihr Mund spricht nicht aus, was nottut – und Verrat an der werdenden Mündigkeit des Kindes, das ins Schweigekartell verstrickt wird. Klassische Schweigegebote lauten: „Wenn du was sagst, kommst du ins Heim!“ – „Sei still, sonst muss der Vater ins Gefängnis!“ Bagatellisierend heißt es: „Stell dich nicht so an.“ Oder: „Das bildest du dir ein, das ist nicht passiert.“ Andere Versionen drohen: „Du lügst, wenn das wahr wäre, müsste ich den Papa verlassen.“ „Mit dir ist was nicht in Ordnung, du hast eine blühende Fantasie.“ „Du zerstörst die Familie.“

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Bestechung kommt hinzu: „Tu mir den Gefallen, du bist mein größter Schatz.“ „Dafür bekommst du was Schönes geschenkt.“ Oft erleben Geschwister betroffene Kinder als bevorzugt: Dauernd geht es um die, um den. Isolieren und Privilegieren, Manipulation und Lüge sind Waffen der privaten Schweigemafia – die im Übrigen Milliarden an Folgekosten verursacht, vom Gesundheitswesen über die Behörden bis zu Haftanstalten.

Freuds therapeutische Redekur hat Sprache als Heilmittel für Beschwiegenes, Beschämendes und Tabuisiertes anerkannt. Gesellschaften brauchen Sprache im Sozialen, um Unaussprechliches aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu entlassen. Solange der mächtige Chiffrierapparat herrscht, so lange kapseln Angst, Schuldgefühle und Redetabus sexuelle Gewalt ein, verschieben sie auf die anderen und spalten sie seelisch ab. Wer schweigt, das erläutert die französische Psychiaterin Caroline Eliacheff in ihrem Buch „Das Kind, das eine Katze sein wollte“, macht sich zum Komplizen der Taten.

Das gesellschaftliche Bewusstsein ändern

Ändern muss sich das gesellschaftliche Bewusstsein, in Jugendämtern, Familiengerichten, Kindergärten und Schulen, bei Kinderärzten und Therapeuten. Wer als Kind von Erwachsenen erfährt, was Erwachsene nicht dürfen und welche Rechte Kinder haben, der findet sich im Schutz und darf hoffen, seine kindliche Kolonialphase einmal gut zu beenden.

Bisher lösen skandalöse Fälle wie Staufen, Lügde, Bergisch Gladbach oder Münster jeweils eine Weile lang das Aufwallen der Gemüter aus. Danach wird das Thema quasi verschluckt, bis der nächste Fall aus dem Dunkelfeld ins Hellfeld rückt. Nur was ans Licht gelangt, kann seelisch bearbeitet werden, gesellschaftlich wie von Individuen.

Überlebende Betroffene haben ein Anrecht auf Entschlüsselung. Sie brauchen Wahrheit über die Taten, die klar angesprochen und als Unrecht benannt werden, damit Wut, Hass, Angst, Enttäuschung und Trauer bewältigbar werden. Das Aufgeben der fatalen Schweigekultur dient diesen Kindern und all den anderen, die bisher so glücklich sind, nicht Opfer geworden zu sein, und es nie werden sollen.

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