Berliner Regisseur Neco Çelik: „Es wird sicher eine Hexenjagd stattfinden“
Türkei im Ausnahmezustand: der Berliner Regisseur Neco Çelik über die Regierungsmaßnahmen und die Spaltung der Gesellschaft.
Der Film- und Theaterregisseur Neco Çelik, 1972 in Berlin geboren, ist zur Zeit Stipendiat der Villa Tarabya, der Kunstakademie des Auswärtigen Amts und des Goethe-Instituts in Istanbul. Er inszenierte unter anderem an der Berliner Staatsoper, am Ballhaus Naunynstraße und dem Maxim-Gorki-Theater.
Herr Çelik, wie haben Sie den Abend des Militärputschs erlebt?
Wir waren gerade in Kadıköy, in einem der vielen Kneipenviertel auf der asiatischen Seite von Istanbul. Einer der Stipendiaten gab dort ein Konzert. Als wir von dem Putsch erfuhren, war das schon ein beklemmendes, surreales Gefühl. Aber es gab keine Panik, wir sind ganz normal zur U-Bahn gelaufen. Später sah ich wie die meisten im Fernsehen, wie die Bevölkerung gegen die Kriminellen in Militäruniform Widerstand leisteten. Mutige Zivilcourage. Gesehen habe ich auch, wie Großstädte mit türkischen F16-Jägern und mit Kampfhubschraubern beschossen und Bomben auf das Parlament in Ankara geworfen wurden. Auch Videoüberwachungsbilder etwa von Straßenkreuzungen wurden gezeigt. Man konnte sehen, was die Putschisten anrichteten. Wie sie mit Panzern rücksichtslos alles auf der Straße überrollten, wie Soldaten gegen Soldaten ihr Leben lassen mussten und auch ganz normale Leute sich vor die Panzer stellten. Es gab auch Soldaten, die aufgaben, weil sie erfuhren, dass sie für eine kriminelle Tat missbraucht wurden. Das Leben hier bewegt sich zwar auf einem anderen demokratischen Level als in Westeuropa, aber es ist in vielem offener und demokratischer, als viele glauben. Dieses Demokratie-Verständnis wollen die Menschen hier mit ihrem Leben verteidigen.
Sie finden die Reaktionen der Erdoğan-Regierung richtig? Tausende Militärs, Richter, Lehrer und Journalisten in staatlichen Medien wurden entlassen, Akademiker dürfen nicht ausreisen – alles okay?
Der Standpunkt der Regierung ist offensichtlich. Was würde die deutsche Regierung tun, wenn Bomben auf Städte fallen und seit Langem der Verdacht besteht, dass eine gewisse Sekte dahintersteckt, die sich wie ein Virus in den Staats-Arterien festgesetzt hat? Wie kann man dagegenwirken? Die Strategie der Regierung ist die, alle staatlichen Institutionen und Organe nun gründlich zu überprüfen. Und in einem Land wie Türkei ist Ausnahmezustand kein Fremdwort.
Es werden aber über 35 000 Lehrer entlassen oder verlieren ihre Zulassung.
Was die Zahlen über einzelne Schicksale aussagen, kann ich nicht abschätzen. Natürlich ist dieses Vorgehen zu hinterfragen, es kann ein gefährlicher Mechanismus werden. Die amerikanische Regierung hat angeboten, zu helfen. Die kennen sich gut aus mit solchen Aktionen, seit dem McCarthy-Ausschuss, der Panik und Paranoia in den vierziger, fünfziger Jahren. Auch hier in der Türkei wird jetzt ausgegrenzt und gebrandmarkt, es wird sicher eine Hexenjagd stattfinden. Alle Parteien stimmen dieser Strategie übrigens zu, es gibt einen politischen Konsens.
Muss man nicht große Angst um die Demokratie in der Türkei haben?
Nein, aber man muss wachsam sein. All die Entlassungen und Kontrollen werden eine Spur hinterlassen, wir wissen noch nicht welche. Es muss Raum für differenzierte Meinungen geben. Die Diskussionen hier werden immer militanter, es wird schnell laut, jeder hat die Wahrheit für sich gepachtet, absurde Verschwörungstheorien kursieren. Die Gesellschaft ist gespalten, sie war übrigens immer gespalten, gleichzeitig ist alles in Bewegung, Stillstand kennt die Türkei nicht. Es ist schnelllebig, es geht weniger um gestern als um heute und morgen.
Viele befürchten, dass nicht nur Staatsfeinde zum Schweigen gebracht werden sollen, sondern ganz normale Kritiker. Die gehören zu einer Demokratie aber dazu.
Die Angst kann ich verstehen. Aber Kritik wird hier manchmal verwechselt mit Verleumdung, Unterstellung, Beleidigung. Natürlich gibt es auch Leute, die ganz normal Kritik üben, das muss weiter möglich sein, es ist meines Erachtens auch möglich. Gesunder Streit ist gut, sage ich als kreativer Mensch. Nur bleibt zur Zeit kaum jemand vorurteilsfrei in der Türkei, Hass und Wut sind Werkzeuge der Kommunikation geworden.
Wie sieht der Ausnahmezustand in Istanbul denn konkret aus: Bleiben die Menschen zu Hause?
Der Alltag ist intakt, die Menschen gehen ihrer Arbeit nach oder fahren in Urlaub, ans Mittelmeer oder an die Schwarzmeerküste. Die Stadt ist ohnehin leerer als sonst. Natürlich sind Konzerte und ähnliches abgesagt, auch hier in Tarabya, schon aus Gründen der Pietät gegenüber den Toten. Übrigens hat Istanbul schon vor dem Putsch Terroranschläge erlebt, es gibt eine gewisse Routine bei dieser Nicht-Normalität. Gestern fielen Bomben, heute sitzen wir im Restaurant. Es bleibt surreal.
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