50 Jahre Woodstock: „Es war wild“
Legende mit irreführendem Namen: Vor 50 Jahren begann das Woodstock Festival - 70 Meilen entfernt in Bethel. Zum Jubiläum ein Besuch auf heiligem Hippie-Boden.
Da unten muss es sein. Am Ende des grünen Hügels, der sich von dem Museumsgebäude hinab bis zu dem hölzernen Weidezaun erstreckt. Ein paar wie zufällig hingeworfene Gesteinsbrocken markieren die Stelle. Hier, wo sich die perfekt getrimmte Wiese wie ein Amphitheater öffnet, war vor 50 Jahren die große Bühne aufgebaut, das haben Experten der Binghamton University gerade bestätigt.
Hunderttausende tanzten beseelt im Schlamm, träumten von einer besseren Welt, machten freie Liebe, protestierten gegen den Vietnam-Krieg. Stars wurden geboren. Hier war Woodstock, das größte Open-Air-Rockkonzert aller Zeiten, Inbegriff der Hippie-Kultur. Einer der Momente, die das 20. Jahrhundert prägten. Ein Mythos.
Dabei ist schon der Name irreführend. Das legendäre Ereignis hat mit dem gleichnamigen Künstlerdorf nur wenig zu tun. Die Musikproduzenten Michael Lang und Artie Kornfeld wollten dort zwar ursprünglich ihr Musik- und Kunstfestival mit dem offiziellen Namen „Woodstock Music & Art Fair presents an Aquarius Exhibition – 3 Days of Peace & Music“ veranstalten.
Doch gegen den erwarteten Hippie-Ansturm auf den Veranstaltungsort, eine Farm 15 Kilometer östlich von Woodstock, wehrten sich die Anwohner erfolgreich, genauso passierte es bei dem nächsten Gelände in Wallkill. Vier Wochen vor dem geplanten Konzerttermin wurde der endgültige Standort gefunden: das Weideland des Milchbauern Max Yasgur in dem Dorf Bethel, rund 70 Meilen entfernt.
Woodstock kennt heute jeder, Bethel kaum einer. Waren die Bewohner von Bethel damals noch entsetzt über das unmoralische Treiben langhaariger Hippies – Milchbauer Yasgur sah sich danach enormen Anfeindungen ausgesetzt und verkaufte seine Wiesen –, sind sie heute stolz auf dass Jahrhundert-Event. Und hoffen auf so manches gute Geschäft. Überall sind derzeit Hinweise auf das 50-jährige Jubiläum zu sehen. Sogar einen offiziellen „Woodstock Way“ gibt es seit Mai: Ein großes braunes Straßenschild an der Route 17B bei Monticello weist den Besuchern die letzten Kilometer bis zu den riesigen Parkplatzflächen am Rand des einstigen Festivalorts.
Aus Wildfremden wurden Freunde fürs Leben
Was dort vom 15. bis zum 17. August 1969, oder besser bis zum Morgen des 18. passierte, ist weitgehend bekannt, auch wenn es den Spruch gibt: Wenn du dich an Woodstock erinnern kannst, warst du nicht wirklich da. Ein mehr oder weniger dezenter Hinweis auf die Unmengen an Drogen, die wohl einen erheblichen Anteil an den vier Tagen Peace, Love and Happiness hatten.
Fast eine halbe Million Hippies, mehr als doppelt so viele wie erwartet, die zu unglaublich viel guter – unter anderem von Joan Baez, The Grateful Dead, Janis Joplin, Jimi Hendrix, Joe Cocker, Santana, CCR und The Who –, aber auch manch schlechter Musik bis zur Bewusstlosigkeit feierten, erst bei Sonnenschein, dann bei sintflutartigem Regen, junge, teils (halb-)nackte Leute, die den Matsch und die prekäre Versorgungslage ignorierten und aus Wildfremden Freunde fürs Leben oder auch nur den Moment machten.
In der Menge war auch die damals 21-jährige Barbara Sush aus Monticello. Zusammen mit ihrer Schwester hat sie es zeitweise bis ganz vorn an die Bühne geschafft. Das beweist das Cover-Foto des „Life“-Magazins, das zum 20-jährigen Jubiläum erschienen ist. Auf dem Foto sieht man unten links eine zierliche junge Frau, die langen dunklen Haare typisch gescheitelt, weißes T-Shirt, ernstes Gesicht. Bei einem Jubiläumsbrunch in Bethel 50 Jahre später zückt Sush ihr Handy mit dem Foto: „Das bin ich.“
War sie gebannt. Oder eingeschüchtert? „Woodstock war extrem, alles war möglich, einfach unglaublich“, erzählt sie, noch immer zierlich, die Haare inzwischen hellblond-gelockt. „Wir mussten bis zum Schluss bleiben, es gab keine Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen. Es waren ja so viele Autos, die sich gegenseitig zuparkten, nichts ging mehr. Am Ende sind wir die zehn Meilen nach Hause gelaufen, und unser Vater hat uns eine Woche später wieder hingefahren, um den Wagen abzuholen.“ Wo und wie sie geschlafen hat, ob im Zelt, unter freiem Himmel oder ob überhaupt, das weiß Sush alles nicht mehr so genau. Oder sie will es nicht erzählen. „Es war wild.“
Die Erinnerung wird kommerzialisiert
In diesen Tagen kommen wie Barbara Sush und ihr Mann Richard viele zurück an diesen Ort, um an Aktivitäten rund um das Jubiläum teilzunehmen, alte Freunde zu treffen oder einfach nur, um noch einmal der einzigartigen Magie nachzuspüren. Stört sie die zunehmende Kommerzialisierung ihrer Erinnerungen nicht, der perfekt gemähte Rasen, die „Rauchen verboten“-Schilder, die Erinnerungspflastersteine, die für 269 Dollar zu erwerben sind, um sie in der Auffahrt zum Museum verlegen zu lassen?
„Das ist doch normal, das ist der amerikanische Kapitalismus“, sagt Barry Truchil, auch er war damals dabei. Der 68-Jährige, weiße Haare, Brille und rotes T-Shirt der „Jerry Garcia Band“, steht vor einem Flowerpower-VW-Bus. Die originalgetreue Kopie ist eine der Hauptattraktionen im Erdgeschoss des Museums im Bethel Woods Center for the Arts. Der Eintritt kostet 13 Dollar, im Museumsshop können die Besucher gebatikte T-Shirts mit Woodstock-Logo für 24,95 Dollar kaufen, Ketten, Ringe, Teetassen und allerlei sonstige Souvenirs.
Im Keller ist die Sonderausstellung „We Are Golden“ – in Anlehnung an Joni Mitchells Ballade „Woodstock“ – zu sehen. Gezeigt werden hunderte Bilder und Devotionalien wie das Original-Konzertplakat, das Instrument des Jefferson-Airplane-Bassisten Jack Casady und das Motorrad von Michael Lang. Es gibt sogar eine Fotoecke, wo die Besucher sich passende Tuniken und Hüte überziehen können, um sich in die Menschenmenge von 1969 hinein fotoshoppen zu lassen.
Wir nehmen nur das, was man rauchen kann
Barry Truchil mag es, dass der einst so magische Ort nun von so vielen besucht wird, auch von vielen Kindern. Für ihn waren die Tage im August 1969 die Vision einer neuen, einer besseren Zeit, das müsse doch der Nachwelt erzählt werden. „Woodstock hat alles verändert“, sagt er. „Woodstock hat mich verändert. Die Art, wie die Menschen sich um einander gekümmert haben, alle haben alles geteilt. Das war mehr als nur eine riesige Party, es hat mir gezeigt, wie wir konfliktfrei zusammenleben können.“ Ja, und die Musik sei natürlich gigantisch gewesen.
Truchil, der heute Soziologie an der Rider University in New Jersey lehrt, ist zum zweiten Mal zurückgekehrt und lässt sich durch die Museumsräume führen. Mehrfach korrigiert er Tourguide Jim, obwohl auch der dabei war. Jeder hat eben seine eigenen Erinnerungen.
Was aber auch andere Zeitzeugen bis heute erstaunt, ist tatsächlich, wie friedlich das alle Rahmen sprengende Festival im Schlamm ablief. Kein Chaos, keine Gewalt – bei einer Massenveranstaltung heutzutage undenkbar. Vielleicht nur möglich mit der gelebten Freizügigkeit, auch bei den Drogen, die in allen Varianten verfügbar waren, vor allem Marihuana. „Wir haben uns geschworen: Wir nehmen nur, was man rauchen kann, dann sind wir auf der sicheren Seite“, erzählt Barbara Sush. Von den anderen, künstlichen Drogen ließen die beiden Schwestern die Finger.
Verlässt man das Museum, das 2008 gebaut wurde, und geht weiter den Hang hinunter, stößt man auf den zwei Jahre zuvor errichteten permanenten Konzertpavillon. Bei heutigen Veranstaltungen sind höchstens 15 000 Besucher für das steinerne Amphitheater und den Rasen davor zugelassen. Der ursprüngliche Festivalort ein paar hundert Meter daneben, der wegen diverser Umgestaltungen inzwischen unter einer dicken Erdschicht verborgen ist, darf dagegen nicht bespielt werden, so will es der konservative Philanthrop Alan Gerry, der das gemeinnützige Bethel Woods Center for the Arts Mitte der neunziger Jahre gegründet hat.
Die große Neuauflage von Woodstock fällt aus
An einem Samstagabend Mitte Juli spielen Elvis Costello und Blondie für ein paar tausend Gäste in Bethel Woods. Die sitzen in grünen, zusammenfaltbaren Gartenstühlen und auf Picknickdecken, trinken „Frozen Rose“ im Tetrapack, Bier oder Limonade. Kinder toben in den Lücken zwischen den ordentlichen Stuhlreihen. Rauchen ist wie immer verboten, Drogen undenkbar. Vom revolutionären, bewusstseinserweiternden Geist des Jahres 1969 ist nicht viel geblieben.
Michael Lang hatte Anfang des Jahres eine Neuauflage zum 50. Jubiläum des Woodstock-Festivals angekündigt. Ursprünglich sollte es in Watkins Glen im Norden des Bundesstaates New York stattfinden, etwa 200 Kilometer vom Originalschauplatz entfernt. Doch dann kündigten mehrere Veranstaltungsorte die Zusammenarbeit auf, der Hauptsponsor sprang ab, zuletzt sagten Stars wie Miley Cyrus, Jay-Z, Carlos Santana und John Fogerty ihre Teilnahme ab.
„Wir sind traurig, dass eine Reihe von unvorhergesehenen Rückschlägen es unmöglich gemacht hat, das Festival aufzuziehen, das wir uns vorgestellt hatten“, sagte Michael Lang in der Nacht zu Donnerstag. „Woodstock 50“ ist tot. Stattdessen soll nun in kleinerem Maßstab in Bethel gefeiert werden. Dort werden vom 16. bis zum 18. August Ringo Starr, Santana und John Fogerty auftreten. Drei Tage voller Liebe, Friede und Nostalgie.
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