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Tansel Akzeybek als verkleideter Königssohn Paris, gerahmt vom Herrenballett.
© dpa Stephanie Pilick

Barrie Koskys „Schöne Helena“ an der Komischen Oper: Es quietscht, kreischt, flimmert und kracht

Dieses Treiben bunt zu nennen, wäre eine maßlose Untertreibung: Barrie Kosky inszeniert Jacques Offenbachs „Schöne Helena“ an der Komischen Oper als irrwitziges Slapstick-Spektakel

Nichts ist erfolgreicher als der Erfolg. Barrie Kosky und seine Komische Oper haben ihn, mit sagenhaft gestiegenen Zuschauerzahlen bei gleichzeitigem Kritikerlob. Das liegt vor allem daran, dass hier einer ganz genau weiß, wo er ist. Mit Gespür für gekappte Traditionslinien, unbedingter Arbeitslust und einem weitem Herzen für seine Darsteller ist der Australier mit seinen ungarisch-polnisch-russischen Wurzeln ein Glück für Berlin. Deshalb hat der scheidende Kultursenator und Regierende Bürgermeister noch flugs die vorzeitige Vertragsverlängerung auf den Weg gebracht. Bis ins Jahr 2022 werden sie nun ein Team sein, die Komische Oper und Barrie Kosky. Ein Blick in die Zukunft, bei dem einem gar nicht bang werden will.

Seine dritte Saison an der Behrenstraße beginnt der Chef mit der Urform der Operette, quasi dem Prequel zu „Ball im Savoy“ und „Clivia“: Jacques Offenbachs „Schöner Helena“. Als Simone Young mit ihr jüngst ihre Abschiedssaison an der Hamburgischen Staatsoper mit demselben Werk einläutete, regte sich umgehend hanseatisches Murren an einem derart substanzlosen Auftakt. Das wird in Berlin keiner als Erstes denken. Zumal Kosky auch hier wieder klug zu verorten weiß: Der Komponist dirigierte einst selbst, wo heute das Deutsche Theater steht, Fritzi Massary sang Offenbach im Metropol-Theater, Walter Felsenstein schuf prägende Deutungen seiner Werke.

Kenne deine Hausgeister und lasse sie hochleben. Das ist nebenbei der beste Weg, sich von ihnen nicht hinterrücks vereinnahmen zu lassen. Seinen Felsenstein will Kosky nicht wälzen, sieht sich keinem linken Deutungsrahmen der Operette verpflichtet, sondern will vor allem das: die Leute unterhalten, sich nicht langweilen, Vielfalt in schillernder Travestie. Moralist, das ist klar, reimt sich nur auf trist.

Ein entfesseltes Herrenballett mit knackigen Hintern

Vitalität lautet das oberste Ziel, für das an der Komischen Oper mehr Schweiß vergossen wird als sonst wo. Im Theater sitzen und spüren, dass man am Leben ist. Mit der „Schönen Helena“ drehen Kosky und sein Team noch einmal am Temporegler. Choreografischer Irrwitz von Beginn an, geflutete Räume, pulsierende Körper. Ökonomische Erwägungen werden ebenso permanent ad absurdum geführt wie jede überkommene Operngeste. Der seltsam artifizielle Umstand, dass auf der Bühne gesungen wird, macht sich selbst zur Zielscheibe des Spotts. Für das entfesselte Herrenballett mit seinen knackig inszenierten Hintern, den ruhelosen Chor und die getriebenen Solisten gilt die Maxime der totalen Verausgabung. Als ob ohne Erschöpfung agieren zugleich unerschöpflich sein bedeuten könnte. Es lebe der reine Übersprung, befreit von jeglicher Handlung.

Dieses Treiben bunt zu nennen, wäre eine Untertreibung. Es quietscht und kreischt, flimmert und kracht. Falsche Husaren rasen auf Rollschuhen herum, einstige Helden japsen in Rollstühlen hinterher. Auf der Szene wird mit Zitaten herumgeballert, und wer auch nur eine Sekunde hinterher grübelt, übersieht das nächste halbe Dutzend.

Der Seher Kalchas: ein federleichter Fettkloß, der an Rossini erinnert und der Wagner-Sucht erlegen ist (wunderbar agil: Stefan Sevenich). Dazu Bühnenmusiker, die alle wie Offenbach aussehen und am liebsten „Hava Nagila“ in die Runde schmettern. „Deutsche Musik!“, kräht Achill (wunderbar stur: Uwe Schönbeck). Eine äußerst haarige Taube der Venus, die zu Mahler-Klängen hereinstolpert. Aznavour, Brel und Edith Piaf haben ihren Auftritt ebenso wie der Mann mit der Mundharmonika.

Nicole Chevaliers Helena, unausgelastet in der Ehe, entäußert sich ohne Unterlass, weiß aber Äußerungen anderer mit der Divendrohung „Don’t speak!“ aus Woody Allens „Bullets over Broadway“ schachmatt zu setzen. Peter Renz als vertrottelter Gatte Menelaus verkörpert Koskys Operettenvision derart hellwach, dass die beiden schon jetzt als verschworenes Theatergespann die Nachfolge von Castorf & Hübchen antreten können.

Generalmusikdirektor Henrik Nanasi geht Offenbachs Musik beherzt an

Dessen Cowboyhut hat sich Tansel Akzeybek aufgesetzt, um sich als leichtfüßiger Paris endlich die von Venus versprochene schönste Frau der Welt zu holen. Ihr Schäferstündchen, eine biedere Nullnummer. An diesem Abend zählt allein die Show. Und die will vor allem eines: weitergehen. Das klappt aber nicht immer. Erst stoppen zu viele halb bewältigte Dialoge, dann eine sinnfreie Pause. Offenbachs Musik, dieses wundersam flexible Klebeband, wird zunächst durchlöchert, bis die Darsteller am Ende mit „Henrik!“-Rufen mehr fordern. Generalmusikdirektor Henrik Nánási gibt das gerne und beherzt, doch da ist es fast schon zu spät. Diese „Helena“ hat ihre Durchhänger, in denen ein Nachlassen der entfesselten Physis nicht mit Seeleneinblicken belohnt wird.

Das Publikum wird Zeuge eines multiplen Warmlaufens: für das Ensemble, dem mit Herbert Fritsch ein Regisseur der körperlichen Extreme ins Haus stürmt (für den notorisch-motorischen Wiederholungstäter Don Giovanni). Und für Kosky selbst, der immer pointierter gegen Wagner anrennt, dessen „Meistersinger“ er 2017 in Bayreuth inszenieren wird. Am Premierenabend läuft manches heiß, anderes leer. Doch was soll’s: Die Stimmung ist prächtig und die Komische Oper zu allen Schandtaten bereit. Wann konnte man das zuletzt über ein Opernhaus sagen. „Ne me quitte pas“ hallt ein letztes Flehen durch den Saal. Es wird Gehör finden.

Weitere Aufführungen bis 23. November.

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