"West Side Story" an der Komischen Oper: Verona ist überall
Barrie Kosky inszeniert an der Komischen Oper eine triumphale „West Side Story“ - und kommt dabei ganz ohne Feuerwehrleitern aus.
Wer braucht ein Bühnenbild, wenn er solche Darsteller hat! In der Komischen Oper lässt Intendant Barrie Kosky die „West Side Story“ auf den blanken Brettern spielen. Ohne die emblematischen Feuerleitern, die nach New York verweisen, ohne Dekorationen, die dem Zuschauer signalisieren, ob die jeweilige Szene gerade bei den puerto-ricanischen oder bei den polnischen Migranten spielt. Da sind nur die beiden Gangs, die Jets und die Sharks, die sich hassen und bekriegen, wie weiland die Capulets und die Montagues in Shakespeares Drama, von dem sich Leonard Bernstein und Choreograf Jerome Robbins zu ihrem Musicalklassiker anregen ließen. Die zwei Jugendcliquen sind kaum zu unterscheiden, weder durch ihre Kleidung – beide tragen moderne Streetwear, Kapuzenpullis, Jogginghosen, Sneakers (Ausstattung: Esther Bialas) –, noch durch ihre soziale Situation. Sie sind Kinder aus Unterschichtfamilien, ohne Jobs, ohne Perspektive. Alles, was sie haben, ist ihr Stolz. Und der manifestiert sich im Zusammengehörigkeitsgefühl – das sich wiederum aus der Verachtung des vermeintlichen Gegners speist.
In der Komischen Oper ist ihre Welt eine Scheibe. Mit einem Strich in der Mitte. Die linke Hälfte der Drehbühne gehört den jüngst eingetroffenen Wirtschaftsflüchtlingen aus Mittelamerika, die rechte denen aus Europa, die schon eine Generation länger auf der West Side von Manhattan leben. Die gestrichelte Linie, mit der diese kreisrunde Spielfläche markiert ist, lässt an Sportfelder denken. Doch hier wird nicht nach Regeln gespielt, zumindest nicht nach fairen. Am Ende sind drei Tote zu beklagen.
In London war Ende der 50er Jahre die hohe Sterberate des Stücks ein Problem. Obwohl die „West Side Story“ seit der Uraufführung im September 1957 in New York gut lief, wollte sich für die Europapremiere zunächst kein Produzent finden. Erst die Hollywoodverfilmung mit Natalie Wood und Richard Beymer, die 1961 zehn Oscars abräumte, bahnte dem Stück den Weg zum Welterfolg.
Seitdem wird es weltweit in der Urfassung von Jerome Robbins gespielt. Bis heute, denn der Choreograf hat drei Regisseuren seine Rechte an der legendären Optik vererbt. Seit Ewigkeiten tourt dieses „Original“ immer wieder auch durch Deutschland, in Berlin war sie zuletzt 2004 und 2012 zu sehen.
Pures Testosteron pulsiert in den Adern der Tänzer
Barrie Kosky hingegen ist der Coup gelungen, den amerikanischen Copyrightbesitzern die Erlaubnis abzuringen, eine eigene Inszenierung herauszubringen. Jegliche Publikationen zur neuen „West Side Story“ an der Komischen Oper sind zwar übersät mit Hinweisen auf die Schöpfer der Broadway-Produktion, aber das frisch gekürte Opernhaus des Jahres hat seit Sonntag „the hottest show in town“! Was zum einen an Koskys untrüglichem Gespür für Tempo liegt, an seinem Händchen für perfekt überblendete szenische Übergänge sowie seiner wahrlich meisterhaften Personenführung. Und zum anderen an Otto Pichler. Unerklärlich, warum der Mann sich keinen Künstlernamen zulegt. Denn seine Choreografien, seine szenischen Whow-Arrangements sehen nie nach Otto aus und schon gar nicht nach Pichler. Pures Testosteron pulsiert in den Adern der 19 Tänzer, die über die Behrenstraßen-Bühne fegen. Maximal professionelle Showtänzer als hormongesteuerte Halbstarke: was für ein torerohaftes Stampfen und Schnauben, was für ein übertriebenes Prahlen und Auftrumpfen. Bewegung, geboren aus pubertärer Emotionsverwirrung.
Und Dirigent Koen Schoots macht die richtige Musik dazu: schön laut, vorwärts drängend, dominiert von den Beats der Perkussionisten, knacktrockenen Trommeln, Kastagnetten, Metallophonen, die klingen wie die Nibelheim-Ambosse aus „Rheingold“. Das Orchester der Komischen Oper wird zur Big Band, macht mächtig Stimmung wie schon bei „Kiss me, Kate“, als ebenfalls Koen Schoots am Pult stand. Dass hier die volle Instrumentalfassung zu erleben ist, wie Barrie Kosky im Vorfeld immer wieder betont hat, und nicht die Tourneebesetzung mit 25 Musikern, wird nur selten hörbar. Dann aber, wie im Nachspiel von Tonys Arie „Maria“, besonders eindrücklich, mit dichtem, intensiven Streichquartettsound.
Wenn die Philharmoniker in der Oper wildern, darf die Komische Oper auch "West Side Story" bringen
Kosky hat auch deshalb immer wieder auf die große Besetzung verwiesen, um möglichen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Menschen, die ihm vorwerfen könnten, dass er mit staatlichen Subventionen einen Kassenfüller herausbringt, mit dem sonst Privatveranstalter Geld verdienen. Da ist was dran – wäre da nicht Koskys Glaubwürdigkeit in Sachen „diversity“. Die Vielfalt zu fördern, ist sein Hauptziel als Intendant, sowohl beim Publikum (Wer hat so viele junge Opernbesucher? Wo sonst gibt es Untertitel auf Türkisch?) als auch beim Repertoire. Wenn ein genuines Sinfonieorchester wie die Berliner Philharmoniker regelmäßig im Opernbereich wildert, um seine stilistische Wendigkeit zu trainieren, dann darf auf die Komische Oper neben Barockem, Zeitgenössischem, Operette und Opernklassikern eben auch mal die „West Side Story“ spielen.
Vor allem so: Als Parabel auf die zerstörende Wirkung des Hasses und den vergeblichen Kampf der Liebe dagegen. Shakespeares Verona, ruft Kosky seinen Besuchern zu, ist überall! Darum die abstrakte Bühne (in großstädtische Lichtstimmungen getaucht von Franck Evin), darum auch der radikale Verzicht aufs Typecasting bei den Hauptfiguren. Julia Giebels tapsige, rothaarige Maria mit der burschikosen Kurzhaarfrisur sieht eher nach der Tochter irischer Ureinwanderer aus als nach der Puerto Ricanerin, die sie spielt. Und Tansel Akzeybeks Tony geht kaum als Sohn polnischer Eltern durch. Müssen sie auch gar nicht – denn ihre Liebe steht über den Zeiten und nationalen Eigenheiten. Weil Otto Pichlers Tanznummern bei allem Drive immer deutlich als kunstvoll gemacht erkennbar bleiben, als perfekt synchronisierte Schrittfolgen, wächst den Dialogszenen von Tony und Maria eine ungeheure realistische Kraft zu. Vor dem Hintergrund ihrer entindividualisierten Peergroups agieren da zwei Menschen, zwei Identifikationsfiguren. Sinnlich und leidenschaftlich Tansel Akzeybek, geradlinig und mädchenhaft Julia Giebel. Beeindruckend die Körperlichkeit von Sigalit Feig (Anita) wie Daniel Therrien (Riff), berührend Ensemblemitglied Peter Renz, der seine wenigen Sätze nutzt, um aus dem Doc eine Charakterrolle zu machen.
Nur ganz kurz hängt für das Liebespaar der Himmel voller Disco-Kugeln, dann richtet auch bei Kosky und Pichler das Schicksal seinen Lauf auf Tony, die fatalen Schüsse fallen, der Getroffene versucht, mit seiner Liebsten „There’s a place for us“ anzustimmen, das Lied, das die Vision eines friedlichen Zusammenlebens beschwört. Doch seinen Lungen entweicht nur japsend die letzte Luft. Stumm stehen die Mitglieder der Gangs an der gestrichelten Linie, die das Leben vom Tod trennt, dann dreht die Bühne ins Dunkel. Unhappy End, tosender Premierenapplaus.
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