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Keiner prägte die deutsche Literaturlandschaft so, wie der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
© dpa

Monika Zimmermann über Marcel Reich-Ranicki: Es ging oft hoch her im Feuilleton

Für ihr Buch "Unter lauter Leuten" hat die frühere Tagesspiegel-Chefredakteurin Monika Zimmermann unter anderem Marcel Reich-Ranicki porträtiert, mit dem sie bei der FAZ zusammenarbeitete. Eine Leseprobe.

Überhaupt hat Marcel Reich-Ranicki und Joachim Fest ein besonderes, für Außenstehende rätselhaftes Verhältnis verbunden. Fest hatte Reich-Ranicki einst zur F. A. Z. geholt, obwohl beide so verschieden waren wie Menschen nur verschieden sein können. Der eine distinguiert, leise und zurückhaltend bis zu Schüchternheit, der andere laut, besserwisserisch und immer im Mittelpunkt stehend. Fest verteidigte Reich-Ranicki selbst dann noch, wenn dessen Kritik wieder einmal kein Maß kannte und die Wogen in der Literaturszene sich überschlugen. Den Anwürfen, die dann auch auf ihn als den zuständigen Herausgeber herunterprasselten, hielt Fest stand, ja, er schien darüber sogar eine klammheimliche Freude zu empfinden. Sich selbst umgab er lieber mit der Aura des Unnahbaren. Diese Aura bekam allenfalls Risse, wenn Fest, was gelegentlich vorkam, gemeinsam mit jungen Kollegen vor dem Fernseher saß und begeistert Fußball schaute. Dann wurden die Füße schon mal auf den Tisch gelegt und das Bier aus der Flasche getrunken.

Sein Feuilleton jedenfalls hielt Fest gegen mancherlei Anfeindungen auf Kurs. War der Politikteil der Zeitung eher konservativ ausgerichtet und der Wirtschaftsteil liberal, so war das Feuilleton vor allem eins: elitär. Diese intellektuelle Atmosphäre zog immer wieder hochbegabte junge Leute an, die, unmittelbar von der Universität kommend, hier ihren Einstieg in den Journalismus fanden. Manche tauchten zunächst als freie Mitarbeiter auf und machten dann eine atemberaubende Karriere. Wie beispielsweise Frank Schirrmacher, der als Hospitant anfing, sich aber damals schon von niemandem etwas sagen lassen wollte, und dann rasend schnell erst Reich-Ranicki als Literaturchef und danach Joachim Fest als Herausgeber nachfolgen sollte. Oder Mathias Döpfner, der heute den Springer-Verlag führt. Den habe ich damals noch als freien Mitarbeiter erlebt, der vorzugsweise sonntags in die Redaktion kam, um seine Texte abzuliefern. Oder Rupert Neudeck, der Fernsehkritiken schrieb, bevor er später mit dem Schiff „Cap Anamur“ Furore als früher Aktivist der Flüchtlingshilfe machte.

Es ging oft hoch her im Feuilleton und für mich, die ich, kaum dreißigjährig, dazugestoßen war, erwies sich der Redaktionsalltag als eine einzige spannende Fortbildungsveranstaltung. Täglich von klugen, gebildeten, zum Teil recht skurrilen Persönlichkeiten umgeben zu sein, war eine einmalige Schule des Lebens. Ich lernte viel über Dinge, von denen ich vorher keine Ahnung gehabt hatte. So wurde ich nach und nach mit den Feinheiten von Ballettaufführungen vertraut, lernte die Konzertszene kennen, konnte spannende Wissenschaftsdiskussionen verfolgen und tief eintauchen in die Literatur. Reich-Ranickis temperamentvolle Einlassungen über Schriftsteller hautnah und beinahe täglich zu erleben, war zwar oft überaus witzig, gelegentlich fiel er uns mit seiner Penetranz aber auch gehörig auf den Wecker. Er sprach immerzu über Literatur und die Literaten, nie dagegen über sein eigenes Leben oder gar über die schwere Zeit im Warschauer Ghetto. Das war für ihn offenbar kein Thema, über das er gern sprach Einzelheiten darüber habe ich deshalb nicht von ihm, sondern erst später durch seine Autobiografie erfahren. (…)

Höhepunkt der Arbeitswoche bei der F. A. Z. war stets der Dienstagvormittag. Da fand die große Konferenz statt, an der alle Redakteurinnen und Redakteure, auch die allerkleinsten, teilnehmen durften. Die Herausgeber saßen vorn am Tisch aufgereiht, einer von ihnen führte jeweils für ein Jahr den Vorsitz. Die Redakteurinnen und Redakteure saßen im Karree um diese fünf Lichtgestalten herum. Für manchen war diese Konferenz willkommene Gelegenheit, sich zu produzieren, andere schwiegen lieber beredt. Gelegentlich aber entspannen sich Diskussionen von bemerkenswerter Tragweite. Insbesondere dann, wenn Dolf Sternberger das Wort nahm. Sternberger, einer der Väter des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, hatte als Berater des Herausgebergremiums Zutritt zu dieser Konferenz. Wenn er sich einmischte, geriet jede Diskussion schnell zu einer Lehrstunde der Politik. Reich-Ranicki rutschte dann meist auf seinem Stuhl nervös hin und her. Zuhören war seine Sache nicht. Wenn er sich langweilte – und er langweilte sich oft, wenn andere sprachen – konnte er die Situation durch lautes Gähnen, Rekeln, Stöhnen bis zur Unhöflichkeit stören. So viel wie er von Literatur verstand, so wenig verstand er von Politik, von Tagespolitik schon gleich gar nichts. Sie interessierte ihn auch nicht.

Eine besondere Herausforderung war es für jeden Kollegen, besser gesagt jede Kollegin, wenn Reich-Ranicki sie zum Abendessen einlud. Das tat er gern, wenn seine Frau verreist war und er ansonsten alleine hätte speisen müssen. Das mochte er nicht und lud sich deshalb jemanden ein, ihn zu seinem Lieblingsitaliener zu begleiten, wo „Dottore“ immer mit höchster Ehrerbietung empfangen wurde. Die Unterhaltung mit Reich-Ranicki war leicht, vorausgesetzt, man konnte intelligent zuhören und verfiel nicht auf die abstruse Idee, von sich selbst erzählen zu wollen. Dann konnte der Abend schnell beendet sein, weil Reich-Ranicki sich wieder zu langweilen begann. (…)

Reich-Ranicki habe ich dann auch in Berlin wiedergetroffen. Eines Tages lud er mich ein, ihn in der Stadt, wo er eine unbeschwerte Schulzeit verbracht hatte, bevor er sich plötzlich im Ghetto von Warschau wiederfand, zu einem Konzert in die Philharmonie zu begleiten. Denn neben der Literatur war Musik seine Leidenschaft. Da wir in dem Konzert zufällig auch Hellmuth Karasek trafen, hatte ich das seltene Vergnügen, im Anschluss an die Musik in Begleitung des halben literarischen Quartetts ein Berliner Prominentenlokal zu betreten, was entsprechende Aufmerksamkeit erregte. So zuvorkommend, wie an diesem Abend war ich dort noch nie bedient worden. Wochen später fiel ein zweites Mal ein klein wenig von Reich-Ranickis Popularität, die auf mich ab. In einem Fernsehbericht über den Literaturpapst, den ich zufällig sah, berichtete er doch tatsächlich, dass er gerade einen Brief seiner Kollegin Monika Zimmermann erhalten habe und diesen nun zu beantworten gedenke. Auf diese winzige Erwähnung meiner Person in einem Fernsehfilm über Reich-Ranicki wurde ich in den Tagen danach öfter angesprochen als auf irgendeinen meiner eigenen Artikel, die ich in der Zeitung veröffentlicht hatte. Für mich war das eine ziemlich ernüchternde Erfahrung.

Monika Zimmermann

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