Nachruf auf Hellmuth Karasek: Der melancholische Komödiant
Keiner konnte scheinbar trauriger aussehen. Bis ein Stichwort fiel, ein Einfall kam. Dann verwandelte sich Hellmuth Karasek. Klug, zitatensicher, pointenreich – ein Kritiker wie kein zweiter. Nur ein Traum blieb für immer unerfüllt.
Er konnte eben über eine rätselhaft dunkle Wendung in einem Hölderlin-Gedicht eine erhellende Bemerkung machen und im nächsten Moment über eine Sottise von Woody Allen plaudern, hatte gerade eine Partie Tennis gespielt, danach das eine oder andere Glas Schampus getrunken, nachmittags noch einen neuen Roman von Philip Roth rezensiert und war am Abend als Mitspieler (und „Professor“) in einer Fernsehquiz-Show zu sehen, in welcher der Name Hölderlin wahrscheinlich nur ihm allein bekannt gewesen wäre.
Tatsächlich war Hellmuth Karasek im deutschen Journalismus und Kulturleben völlig einzigartig. Zumal er den sogenannten erweiterten Kulturbegriff über das von ihm jahrzehntelang mitgeprägte Zeitungsfeuilleton wie unbeschwert ins wirkliche Leben übersetzte. Sein älterer Kollege und späterer Freund Marcel Reich-Ranicki hatte wie er dem Fernsehen seine übergreifende Popularität zu verdanken.
Beide zündeten dort durch ihre Mischung aus staunenswerter, dem Medium sonst nicht so vertrauter Bildung – und dank ihres ungemein schlagfertigen Witzes. Doch während Reich-Ranicki, der Holocaust-Überlebende, vor allem als Kontrastfigur wirkte, auch als Poltergeist, schien Karasek ein sanfteres Konsensbedürfnis zu stillen. Er schlug, weit über den Fokus des von ihm mitbestimmten „Literarischen Quartetts“ im ZDF hinaus, die Brücke zwischen Hochkultur und Unterhaltungsbedürfnis. Zwischen Tiefsinn und bisweilen höherem Unsinn. „Freuds Couch & Hempels Sofa“ hieß eines seiner Bücher, ein typischer Titel.
Hellmuth Karasek talkte mit Gottschalk, Tussi und Teufel über die Grenzen des Öffentlich-Rechtlichen hinweg und war so auch ein reifer Popjournalist. Manche Kritikerkollegen haben ihm diese Vielfalt vorgeworfen: als habe er seinen Intellekt auf dem Altar der Massenkultur geopfert.
Die Verachtung des Massenmedialen war ihm fremd
Aber wie er, bei aller gelegentlichen Ironie, doch immer großzügig über andere Menschen aus dem Metier sprach, ohne Neid oder Häme, so war ihm die Verachtung des Massenmedialen völlig fremd. Darin war er sehr demokratisch. Nicht populistisch im Sinne der bewussten oder gar geheuchelten Anbiederung, vielmehr nur ungezwungen populär. In Redaktionskonferenzen konnte er im Argument durchaus mal scharf sein, wollte im Grunde jedoch geliebt werden. Er suchte Harmonie und, wenn schon nicht Frieden, dann bei der Wahl der Waffen nicht den Säbel, sondern das Florett.
Karasek, der sich selber auf der zweiten Silbe betonte, wurde 1934 im mährischen Brünn geboren; er ging als Kind Hitler-begeisterter Eltern während Krieg und Besetzung noch auf eine NS-Elitennachwuchsschule, dann floh die Familie nach Sachsen-Anhalt, wo er in der DDR in Bernburg an der Saale Abitur machte, danach der Wechsel in den Westen. Es folgten die germanistische Promotion in Tübingen sowie erste Literatur- und Theaterkritiken in der „Stuttgarter Zeitung“ und in „Theater heute“.
Als Karasek Mitte der 60er Jahre kurze Zeit Chefdramaturg des Württembergischen Staatstheaters war, hat er die Inszenierungen und Fernsehaufzeichnungen der damals so psychologisch scharfen wie poetisch feinen Inszenierungen Rudolf Noeltes begleitet, auch schon mit Auftritten im frühen Bildungsfernsehen.
Karasek war, auch als Gast der Schriftsteller-Gruppe 47, einer der die junge Bundesrepublik vor und nach 1968 prägenden Kritiker. Nicht gleich so einflussreich, aber bald auf der Höhe von Joachim Kaiser, Reich-Ranicki oder Fritz J. Raddatz. Und so rief ihn die „Zeit“ nach Hamburg als Theater- und Literaturkritiker. Von 1974 bis 1991 war Karasek dann Leiter des Spiegel-Kulturressorts, das er innerhalb des politischen Magazins erst zu größerer Aufmerksamkeit führte – auch mit der Einführung von Autorennamen, denn davor waren Beiträge, außer vom Herausgeber Rudolf Augstein, meist nur anonym erschienen. Eine nicht geringe Blattrevolution, und Karasek gehört nun zu den Leuchten des (west-)deutschen Kulturkritikerbetriebs.
Biograf von Billy Wilder
Längst schlug sein Herz da nicht mehr nur für das Theater oder die Literatur, als seine frischere Liebe entdeckte er für sich und seine Leser den Film. Vor allem die Filmkomödie. Karaseks unheroischer, weil vor allem dem bürgerlichen Heldenleben zugeneigter Heros war dabei der aus dem Nazireich emigrierte Regisseur Billy Wilder.
Auf seinem eigenen Vater lag wohl der Schatten der Nazizeit, so suchte sich Karasek neue, andere Väter, Brüder, Freunde. Erst Wilder, dem er als Biografie eine wunderbare „Nahaufnahme“ gewidmet hat, später Reich-Ranicki. Als der „Spiegel“ in den 80er Jahren einmal eine Titelgeschichte über Sex in der katholischen Kirche machte und lange keine passende Überschrift fest stand, fiel Karasek kurz vor Redaktionsschluss die Zeile „Mönche mögen’s heiß“ ein. Er hat das Wortspiel auch an Billy Wilder nach Hollywood gefaxt, und dessen Amüsement war Karaseks Stolz.
Eitel war er gewiss auch, aber diskret. Er war einer ersten Menschen (genauer: Männer), die irgendwann rosa Hemden trugen, doch Karasek war darin kein Geck, sondern nur der oft etwas zerzauste bunte Vogel. Er hatte etwas von einem melancholischen Komödianten. Oft schwere Lider, hängende Backen und Mundwinkel, keiner konnte scheinbar trauriger aussehen. Bis ein Stichwort fiel, ein Einfall kam, und schon verwandelte er sich mit leicht rollender Stimme in ein Feuerwerk. Klug, zitatensicher, pointenreich. So haben wir ihn beim Tagesspiegel in den Jahren 1997 bis 2004 auch als Herausgeber erlebt.
Einmal fragte ich ihn bei einem Gespräch in seiner Hamburger Wohnung nach den „vielen Hochzeiten“, auf denen er so gerne getanzt hat. Da antwortete er offen, er habe Angst. Die Angst abzusagen. „Weil ich dann denke, irgendwann bleibt das Telefon still, und keiner ruft mehr an.“ In ihm war eine innere Unruhe, die ihn auch nach kurzen, durchfeierten Nächten früh aufstehen ließ, fleißig Artikel und Bücher schreiben hieß, längst vor den vielen anderen Medienauftritten. Karasek erzählte mir damals, er habe zu bestimmten Lebenszeiten seine Post nie geöffnet, aus Sorge vor den Mahnungen seiner Bank. Ein Lieblingsbonmot war für ihn Nestroys Satz: „Die Phönizier haben das Geld erfunden. Aber warum so wenig?“
Flucht und Heimatverlust haben ihn geprägt
Geldgier war ihm dennoch fremd. So fremd wie Protzsucht. Er trank so gerne täglich Champagner, weil er ihm einfach schmeckte und er kein Sparer war. „Ich bin ein Verschwender“, sagte er gern, und das war kein Witz. Er hatte ein zu gutes Gedächtnis für Hunger, Durst und Furcht.
Hierzu, das ist der Schlüssel zum ganzen Karasek, muss man seine 2004 erschienene Autobiografie „Auf der Flucht“ lesen. Karasek beschreibt darin Kindheit, Krieg, den mehrfachen Heimatverlust und die Erfahrung mit Diktaturen und Ideologien, erst unter den Nazis dann in der frühen DDR. Nicht nur deshalb ist auch sein früheres kleines Buch über Bertolt Brecht („Der jüngste Fall eines Theaterklassikers“) in der Fülle der schier unübersehbaren Brecht-Literatur eines der besten. Er erkennt, wie das Talent des Jahrhundertdramatikers durch den Marxismus gleichermaßen beflügelte wie beschädigt wird.
Kluge, meist ohne viel theoretischen Ballast geschriebene Bücher von Karasek gibt es über Carl Sternheim und Max Frisch, über Billy Wilder sowieso, über Witze, Frauen und Männer, auch Romane wie „Das Magazin“ (sein Blick in den „Spiegel“), eine feuilletonistische Kulturgeschichte des Handys oder, lange vorm Großwerk des Historikers Heinrich August Winkler, „Go West!“: eine unterhaltsame Studie zur bundesrepublikanischen Westbindung durch die ersten Erfahrungen der Popkultur.
Seine Kenntnis, sein Charme und seine Fairness waren im „Literarischen Quartett“ das ausgleichende Element zwischen Marcel Reich-Ranicki (der den engeren Literaturbegriff hatte) und der mal etwas postmodernen, mal etwas prüderen Sigrid Löffler. Karasek wirkte nicht kriterienlos, aber offen.
Sein eigenes früheres Pseudonym lautete Daniel Doppler. Der fröhliche Janus. Unter diesem jedermann bekannten Scheinnamen hat er auch drei Theaterkomödien geschrieben. Die waren nicht Shakespeare und nicht Molière, doch mindestens ein Plot war ziemlich genial. Sogar im uralten Fach der Seitensprungklamotte. Ein Ehemann geht angeblich auf Geschäftsreise ins Ausland, tatsächlich ist er bei seiner Geliebten – und das gebuchte Flugzeug stürzt ab. Der Mann hat im Bett der Freundin zwar überlebt, aber sitzt nun in der Falle.
Des Königs Spaßmacher als Traumrolle
Karaseks unerfüllter Traum blieb, dass ein Wilder, Woody Allen oder Helmut Dietl (seine Lieblingsregisseure) ihn mal verfilmt hätten. Sonst freilich ist ihm viel gelungen. Im Theater wäre Karaseks Favoritenrolle der legendäre Yorick im „Hamlet“ gewesen, des Königs Spaßmacher. „Ein Bursche“, wie Hamlet sagt, „von unendlichem Humor.“ Nur leider hatte er im Stück keinen eigenen Auftritt mehr, man findet ihn auf dem Friedhof. Am Dienstag nun ist Hellmuth Karasek nach vielen schönen Auftritten mit 81 Jahren in Hamburg gestorben.