Volksbühne: Erinnerung mit Dachschaden
Volksbühnen-Chef Castorf will auch das Räuber-Rad, Symbol seiner Regentschaft, wegschaffen. Er macht klar: Das Theater, das bin ich. Das ist typisch für Berlin. Ein Kommentar.
Erinnerung ist eine kulturelle Waffe. Sie tröstet und sie wühlt auf, sie birgt gesellschaftlichen Sprengstoff. Erinnerungen bestimmen das Geschäft der Politik. Das erlebt Berlin heftig und an den unterschiedlichsten Orten.
In Tegel zum Beispiel. Beim Streit um den Flughafen geht es um Lärmschutz und Lebensqualität. Und natürlich spielen wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Das Wachstum der Stadt und die zu geringen Kapazitäten am nicht mehr so ganz neuen BER in Schönefeld lenken den Blick zurück auf das Bewährte. Tegel aber, und das macht die Sache erst richtig heiß, dient als Symbol. Für den Westen, das vergangene Lebensgefühl einer rundum funktionierenden Stadt. So wie es früher war, also besser.
Was für die einen der Airport, ist für andere die Volksbühne. Nur dass es nicht zu einem Volksbühnenbegehren gekommen ist. Obwohl diese Sehnsucht sich in vielerlei Form artikuliert: Lasst es beim Alten, die Neuen können es nicht, ein einzigartiges Haus, Hort so vieler glänzender, jugendfrischer Erinnerungen, wird zerstört! Der über zwei Jahre bereits sich quälende Streit um die Volksbühne hinterlässt Wunden. Die heilen hier besonders schlecht. Und sie zeigen sich in der Kultur der Erinnerung. Im Kult darum.
Unter dem Jubel der Castorf-Fans ist jetzt der Schriftzug „OST“ vom Dach des Theaters in den Mythos entschwebt. Ein Happening wie einst am Potsdamer Platz, als Daniel Barenboim ein Ballett mit Baukränen dirigierte. Damals gab es eine Aufbruchstimmung. Frank Castorfs Theater war ein wesentlicher Teil dieser Energie. Heute wird das Neue oft als Affront verstanden, es gibt ein Sehnen nach der Brache, dem Unfertigen. Durchaus eine Altersfrage: Wer Berlin um 1995 erlebt hat, zur besten Castorf-Zeit, findet es heute ungemütlich, oberflächlich, teuer.
Misstrauen und Symbole
Ein paar Tage noch bestimmt die Volksbühne eine Gegenwart, die längst Geschichte ist. Wenn Castorf nach immerhin einem Vierteljahrhundert die Intendanz aufgeben muss, dann hält er die Regie des Abschieds fest in der Hand. Das Theater, das bin ich. Und wenn ich gehe, gehen hier die Lichter aus, werden die Brücken gesprengt. Ein Wahnsinnsspektakel: Die Menschen strömen in die Aufführungen, die alsbald für immer vom Spielplan verschwinden. Sie applaudieren mit Wut im Bauch sich selbst und ihren Idolen. Die Stimmung ist hoch emotional. Was macht es, dass die meisten Volksbühnenkünstler aus dem Westen kamen: „OST“ liegt im Herzen. „OST“ ist eine intellektuelle Währung.
Der Kampf geht am Wochenende in die allerletzte Runde. Castorf will auch das Räuber-Rad, Symbol seiner Regentschaft, wegschaffen. Vielen Menschen ist es lieb und vertraut, eine Erinnerung an fantastische Theaterzeiten, die alles übertrafen. Egal, das Rad muss weg. Castorf hat sein eigenes Geschichtsbild. Und er setzt es rücksichtslos durch.
Damit ist er nicht allein, sondern typisch für Berlin. Die Stadt hat die Teilung überwunden, um in kleinere Einheiten zu zerfallen, die einander misstrauen und die Symbole bestreiten. Ist ein Kreuz auf der Kuppel des Humboldt Forums das geeignete Zeichen für ein Haus der Weltkulturen? Doch nicht. Aber es kommt aufs Dach. So wie das lustige Denkmal der Einheit gebaut wird, die Wippe. Im Grunde liebt Berlin diesen Kitsch. Sich in Erinnerungen wiegen, in Debatten hochschaukeln. Nächste Spielzeit: Kreuz auf die Volksbühne, „OST“ aufs Schloss.