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Lautstark und farbenprächtig. „John Gabriel Borkman“ von Vegard Vinge und Ida Müller nach Henrik Ibsen.
© William Minke / Volksbühne

Theater: Die lange Nacht der Monster

So wild und kaputt war Theater lange nicht: das Regieduo Vinge/Müller zerlegt über Stunden hinweg den Berliner Volksbühnen-Prater. Eine Reise zu den aktuellen Bühnen-Exzessen.

Neulich im Münchner Residenztheater. Ein Möchtegern-Entertainer, in der rechten Hand eine Schüssel mit bräunlicher Pampe, in der linken einen Eimer, verspricht, stellvertretend für das Publikum „abzukotzen“. Man solle ihm einfach zurufen, was einem Brechreiz verursache; er werde sich dann die Pampe in den Schlund stopfen und anschließend in den Eimer würgen.

Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis sich eine Zuschauerin erbarmt und „meine Schwiegertochter“ ruft. Anschließend säuft die Nummer – Höhepunkt von Pippo Delbonos Produktion „Erpressung“ – gnadenlos ab.

Klar: Versuchsinteraktive Elemente zwischen Schauspielern und Publikum gehören in den Standardkoffer des Regiehandwerkers. Die theaterhistorische „vierte Wand“, die imaginäre Trennlinie zwischen Bühne und Zuschauerraum, die alles Spiel als hermetisch abgeriegelte Illusion erscheinen lassen sollte, sie ist nicht erst seit heute porös. Allerdings scheint der rege Warenaustausch, der hier stattfinden soll, zusehends an Eingleisigkeit zu leiden.

Denn kommunikativer als beim immateriellen Fremdkotzangebot am Resi zeigt sich das Publikum logischerweise nur dann, wenn tatsächlich handfeste Güter durch die vierte Wand gereicht werden. Die Zuschauer von Anna Bergmanns Oliver-Kluck-Uraufführung „Die Froschfotzenlederfabrik“ im Wiener Kasino am Schwarzenbergplatz greifen vergleichsweise bereitwillig zu den Papphütchen, mit denen sie die Hochzeitsgesellschaft eines neonazistisch angehauchten Brandenburgischen Brautpaares mimen sollen, weil sie zur Belohnung ein echtes Stück Hochzeitstorte bekommen.

Damit, dass dabei irgendeine Art von Irritationsmoment stattfindet, dürfte heutzutage allerdings niemand mehr ernsthaft rechnen. Welcher erwachsene Mensch sollte sich innerhalb der konventionalisierten Als-ob-Verabredung, auf der Theater bekanntlich basiert, allen Ernstes mit politisch unkorrekten Tortenstückchen hinter dem Ofen hervorlocken lassen; zumal eine halbe Ewigkeit nach Brecht? Der interaktive Imperativ ist eine Konvention, aus der man zwar gern jederzeit einen Gratis-Whisky, aber doch bitte keine Besserwissereien mitnimmt!

Es gibt aber Hoffnung: Die laufende Theatersaison weist zwei Auswege aus der Sackgasse. Den ersten, eine Art retrospektiven Trampelpfad in naturalistischem Gedenken, geht der lettische Regisseur Alvis Hermanis in seiner Tschechow-Inszenierung „Platonow“ am Wiener Akademietheater, wo die Schauspieler tatsächlich so agieren, als wäre das Publikum gar nicht da. Man spielt in schwer einsehbaren Bühnenwinkeln, dreht dem Parkett bei tragenden Monologen den Rücken zu und gestattet sich parallel laufende Handlungen. In der aktuellen Bühnenlandschaft wirkt Hermanis’ Revival der vierten Wand, das zu einem analytischen, einfühlungsverhindernden Blick auf die Figuren zwingt, nachgerade avantgardistisch.

Für den zweiten Weg steht das norwegisch-deutsche Regieduo Vegard Vinge und Ida Müller mit seinem Parforceritt durch Ibsens „John Gabriel Borkman“, das 1897 uraufgeführte Drama um einen betrügerischen Bankdirektor und seine Familie. So hat man Ibsen noch nie gesehen. So hat sich der Zuschauer im Theater noch nie verausgabt. So radikal hat sich lange keine Aufführung mehr aus dem Off ins Zentrum der Debatte gespielt. So radikal eben, dass zuletzt einige Vorstellungen wegen Krankheit – oder Erschöpfung? – ausfielen.

Man muss sich die Nacht im Prater der Berliner Volksbühne – wir schreiben halb eins, und Vinges und Müllers Marathon, angedrohte Spieldauer 720 Minuten, geht in die sechste Stunde – etwa so vorstellen: Links hinten macht sich ein Nerd-Brillenträger über eine Boulette her. Von rechts drängt jemand nach einer selbst verordneten Pause friedlich mit Biernachschub zurück auf seinen Platz und kann sich gerade noch wegducken – ein Teil des Bühnenbildes, geschätzte 30 mal 40 mal 70 Zentimeter, fliegt haarscharf an seinem Kopf vorbei, weil Gunhild Borkman, die frustrierte Ehefrau des straffällig gewordenen Ex-Bankers John Gabriel, gerade begonnen hat, die Unterkellerung ihres Hauses auseinander zu nehmen und gen Zuschauertribüne zu schleudern.

Materialmangel ist da nicht zu befürchten. Das Heim der gebrandmarkten Borkman-Family – ein visuell hoch komplexes Pappmaché-Kunstwerk zwischen Geisterbahn, naiv verfremdeter Computerspiel-Oberfläche, Rocky Horror Picture Show und Augsburger Puppenkiste auf Speed – ruht freudianisch korrekt auf dem väterlichen Gesetz: Da der Bergmannssohn John Gabriel Borkman sein Leben auf das „singende Erz in den Gruben“ gegründet hat, kann Gunhild ein ganzes Bergwerk verschleudern.

Nachdem ein Zuschauer den ersten Gesteinsbrocken treffsicher und bestens gelaunt zurück auf die Bühne geworfen hat, entspinnt sich eine (nonverbale) Direkt-Kommunikation, wie man sie ungelogen noch nie erlebt hat im Theater. Die Pappmaché-Quader fliegen in immer kürzerer Frequenz hin und her; weniger sportliche Zeitgenossen geben die Geschosse an aussichtsreichere Nachbarn weiter, die ihrerseits beim Wurf mit einem Eifer antäuschen und lupfen, als handele es sich um den entscheidenden Elfmeter eines WM-Finales. Natürlich hat auch Gunhild – mittlerweile sind geschätzte zwanzig Felsbrocken im Umlauf – Verstärkung bekommen. Ihre Zwillingsschwester Ella wirft ebenso ehrgeizig mit wie ihr Sohn Erhart und Vegard Vinge himself, der ein T-Shirt mit Richard-Wagner-Konterfei trägt und von dem man zu diesem Zeitpunkt noch nicht genau weiß, ob er eine Art gewaltbereites Erhart-Alter-Ego, den geschassten, aber unvermindert von pompösen Gesellschaftsvisionen schwadronierenden Borkman, den überväterlichen Supervisor des Abends oder alles zusammen performt.

Dass eine das Durchschnittsmaß übersteigende Exhibitionsfreude dazugehört, sich wie Vegard Vinge Farbtuben in den Anus zu pressen, um die Farben anschließend auf einer weißen Leinwand kleckerweise wieder auszuscheiden, wird niemand bestreiten. Allerdings ist Freude an der Berufsausübung nicht zwingend identisch mit Selbstzweck. Vinges kreatürliche Brachialentäußerungen mitten durch die vierte Wand stoßen sich wohl durchdacht von einem hyperkünstlichen Szenario ab, das bisweilen näher an Ibsen ist, als einem lieb sein kann.

Die sämtlich weiß maskierten Akteure, die einerseits aussehen wie Zombies aus der Mottenkiste des späten 19. Jahrhunderts, sich andererseits aber auch wie hypermoderne Avatare durchs Geisterbahn-Szenario bewegen, lassen Ibsens Text auf wenige, mit elektronischem Stimmenverzerrer gesprochene und loopartig wiederholte Kernsätze zusammenschnurren. Vinge/Müller übersetzen das psychologische Drama in einen Horrortrip der frei laufenden Symptome. Statt die Neurosen und Zwangsamnesien verbal auszubuchstabieren, werden sie in einer bösartig trügerischen Kinderzimmertricktheaterwelt physisch ausagiert. Über viele Stunden, bis tief in die Nacht.

Vinge streckt, in der rechten Hand eine Pappmaché-Knarre, in der linken eine Ketchupflasche, eine gefühlte Stunde lang nackte Kollegen nieder, die sich wie in einem Live-Computerspiel über die Bühne bewegen. Irgendwo zwischen „Pulp Fiction“, Ego-Shooter-Game, lustigem Splatter-Trash und Hermann Nitschs klassischem Aktionstheater entsteht da plötzlich eine Anders-Breivik-Assoziation, die einem den Atem abschnürt. So zeitgemäß war Theater lange nicht.

„John Gabriel Borkman“ läuft wieder am 9. und am 11. Februar im Prater der Volksbühne.

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