Volksbühnen-Indendant: Frank Castorf: Die Komik der späten Tage
Nach Moskau: Volksbühnen-Intendant Frank Castorf über seine erste Tschechow-Regie und seinen letzten Chefdramaturgen.
Beim Moskauer Tschechow-Festival wurde Frank Castorfs Tschechow-Paraphrase „Nach Moskau! Nach Moskau!“ gefeiert, am Freitag dieser Woche ist sie bei den Wiener Festwochen zu sehen. Berliner Premiere ist zu Beginn kommender Spielzeit in der Volksbühne. Wir trafen den Chef der trudelnden Volksbühne in seinem Intendantenbüro. Vor wenigen Tagen hat er seinem Chefdramaturgen Stefan Rosinski nach nicht einmal einem Jahr gekündigt. Jetzt wirkt er aufgeräumt und entschlossen wie lange nicht. Nach dem Interview muss er sofort los, er ist mit Leander Haußmann verabredet. Castorf, Jahrgang 1951, leitet die Volksbühne seit 1992, sein Intendantenvertrag läuft noch bis 2013.
Herr Castorf, „Nach Moskau! Nach Moskau“ ist Ihr erster Tschechow. Für einen Regisseur, in dessen Inszenierungen für zarte Empfindungen eher wenig Platz haben, der mit seinen Bühnenfiguren gerne rüde, sarkastisch und ziemlich unsentimental umgeht, ist das ein überraschender Autor. Was interessiert Sie an Tschechow?
Wahrscheinlich kann man das Phänomen Tschechow nur erklären, wenn man weiß, dass er Naturwissenschaftler ist, Mediziner, genau wie Büchner oder Bulgakow. Er weiß, was Krankheit bedeutet, Fieber, Schwindsucht, Bluthusten. Seine eigene Tuberkulose hat er bis kurz vor seinem Tod ignoriert. Der Landarzt Bulgakow brauchte seine Portion Morphium, und damit auch seine Portion Ideologie oder Kunst, um den Arzt-Beruf zu ertragen. Bei Tschechow ist es auch die Kunst, die Schönheit, das Gegenbild. Aber bei ihm kommt noch etwas anderes hinzu. Noch beim schlimmsten Anfall, wenn er Blut spuckt, sagt er: komisch, absolut komisch. Als er den „Kirschgarten“ schreibt, will er ein komisches Stück schreiben, kein sentimentales. Tschechow wollte nicht umsonst die Hauptdarstellerin in der „Möwe“ bei der Uraufführung achtkantig rauswerfen. Ihr Seufzen, ihr Heulen fand er unerträglich.
Das klingt mehr nach Castorf als nach Tschechow.
Der Darsteller des Onkel Wanja besucht ihn vier Tage, er kann nicht weg, weil draußen Schnee liegt. Der Schauspieler spielt ihm laufend vor, wie er die Rolle anlegen will. Tschechow schwitzt nur und weiß, das wird ein Debakel. Er war immer gegen das Seufzen und für die Komödie, für das Vaudeville. Das ist sein Hass auf Stanislawski, der ihn zu Lebzeiten nie verstanden hat. Viele Tschechow-Inszenierungen, nicht nur bei meinem Freund Peter Stein, ertrinken im Psychologismus, wie auch immer leicht ironisch gefärbt. Aber tatsächlich haben wir es bei Tschechow in meinen Augen mit einer grellen Komik zu tun, fast wie bei Artaud.
Ist diese Komik nicht todtraurig?
Die Figuren sind kommunikationsunfähig. Das Missverständnis ist die Voraussetzung für Komik. Es ist keine Tat-Sprache mehr, die zu Handlungen führt. Das ist die Absurdität einer Zeit, in der die Menschen handlungsunfähig geworden sind. Sie reden immer von einer Vergangenheit, die schön war. Für die drei Schwestern ist das ihre Kindheit in Moskau. Oder sie reden von einer Zukunft, in der unser Leben einen Sinn haben wird. Diese Zukunft ist allerdings auf eine Zeit in 200 oder 1000 Jahren terminiert. Hinter der Konversation, dem Parlando kommt man immer wieder an den Punkt, an dem man dieses völlig verpfuschte Leben von einsamen, überflüssigen Menschen sieht. Unter den sensiblen Seufzern ist das obszöne, das hysterische, das aggressive Weinen.
Weshalb haben Sie in Ihrer Inszenierung die „Drei Schwestern“ mit Tschechows düsterer Erzählung „Die Bauern“ kombiniert?
„Die Bauern“, das ist das Elend, der Dreck, das russische Dorf, der Muschik, der Schmutz. Aber auch dort ist Komik. Das ist fast wie Tolstoi, wie Dostojewski.
Nur mit dem Unterschied, dass Tolstoi mit seinen antizivilisatorischen, antimodernen Affekten die russische Bauern und die körperliche Arbeit romantisiert. Er verklärt das primitive Leben, als würde es die Seele reinigen. Finden Sie das nicht kitschig?
Was Tschechow beschreibt, ist brutal und trostlos. Die Olga aus den „Bauern“, sagt, an allem ist der Muschik schuld in seiner Wodkaseligkeit und Stumpfheit. Wenn in Moskau gebettelt wird, ist der Muschik schuld. Wenn in Berlin den Deutschen der Mercedes geklaut wird, ist der Muschik schuld, so haben wir das dann weitergetrieben. Wir sehen das Elend, aber im Hintergrund ahnt man bei Tschechow ein Wetterleuchten der radikalen Veränderung, die das 20. Jahrhundert dann heimgesucht hat, die Oktober-Revolution.
Das ewige Parlando der Tschechow-Menschen deckt das immer stärker werdende Gefühl zu, dass etwas zu Ende geht, dass sie in einer Endzeit leben. Hatten Sie von der ewigen Tschechow-Melancholie die Nase voll?
Ja, klar. „Die Bauern“ ist eine auch eine Russland relativ wenig gelesene Erzählung, obwohl die ja sonst alles von Tschechow auswendig können. Es gibt zwei Schlusskapitel im Nachlass von Tschechow, die wir neu übersetzt haben, das ist auf deutsch nie erschienen. Olga und ihre Tochter Sascha, die zwölf Jahre alt ist, gehen vom Dorf, vom Elend und dem Schmutz des Landes nach Moskau. Das ist der Weg, von dem die drei Schwestern in ihrem Landgut in der Provinz immer träumen: nach Moskau, nach Moskau. Die Idee war, das aufeinanderprallen zu lassen: „Nach Moskau“ einmal von unten formuliert, aus der Armut, dem Schmutz, und einmal von oben.
Tschechow kannte die Armut, nicht nur aus seinen Recherchen im zaristischen Gulag, in Sibirien, bei den Verbannten. Er kam selbst aus ärmlichen Verhältnissen.
Ich war in seinem Geburtshaus, das ist so niedrig, dass man kaum darin stehen kann. Mit siebzehn fing er an, sich innerlich von seinem prügelnden, glaubensbesessenen Vater zu befreien, auch, den Atheismus für sich zu entdecken, vielleicht auch das Demokratische, das Antitotalitäre. Deshalb ist er in Westeuropa ja so beliebt.
Dostojewskis Nihilisten und Gottsucher ringen noch mit Gott. Das ist für Tschechow kein Thema mehr. Und für Sie?
Bei Dostojewski, in „Der Spieler“,den ich im nächsten Frühjahr inszenieren will, gibt es etwas, das außerhalb der Menschen existiert, das ist das göttliche Prinzip. Das entscheidet über Wohl und Wehe der handelnden Menschen. Deshalb ist uns Westlern Dostojewski so fremd.
Für Tschechow ist das komplett irrelevant. Tschechows berühmte Antwort auf die Frage, was das Leben ist, lautet: Das Leben ist eine Mohrrübe.
Es gibt keinen Gott, es gibt nur Sinnlosigkeit. Das ist die Modernität. Das ist die ständige Banalität, die Tschechow vom Muschik bis zum Militärarzt sieht und in einer Art hinterfotzigen, ironischen Aufbereitung zeigt, die oft mit Moral und Psychologie verwechselt wird. Tatsächlich ist er viel bösartiger.
Von Tschechows bösem Blick zu den Freuden und Leiden des Theateralltags: Sie haben Ihren erst vor einem Jahr installierten Chefdramaturgen Stefan Rosinski gekündigt. Was war der Auslöser?
Jeder soll sagen, was er will, ich bin da auch nicht so fein. Aber wenn jemand in der Öffentlichkeit bestimmte Dinge tut oder sagt, dann stört das das Vertrauensverhältnis und den Betriebsfrieden. Ich hatte den Eindruck, dass er Projekte, die nicht von ihm sind, zu behindern versuchte, wie jetzt im Juni die Premiere mit Kurt Krömer. Regisseure wie Luc Bondy sind irritiert, weil Stefan Rosinski nach außen aufgetreten ist, als wäre er die Volksbühne. Er trifft beispielsweise Bondy und erklärt ihm eine Stunde lang in aller Unschuld Schiller. Das ist eine seltsame Vorstellung. Dazu kommt: Stefan Rosinski hat gut einen Monat vor Saisonende für die kommende Spielzeit keine auch nur annähernd brauchbare Spielzeitplanung vorgelegt. Das ist für mich insofern ganz gut, als wenigstens keine falschen Projekte vereinbart sind. Jetzt bin ich mit vielen Leuten, die hier was machen wollen, im Gespräch.
Sie haben Rosinski, der davor als Chef der Berliner Opernstiftung gescheitert war, zu Beginn der Spielzeit auf Wunsch der Kulturverwaltung engagiert. Frühere Fehlbesetzungen wie Gaby Gysi waren Ihre eigenen Fehler. Bei dem Tempo, mit dem an der Volksbühne Chefdramaturgen ausgetauscht werden, dürfte es schwer sein, hochkarätige Leute für diesen Job zu finden.
Ich will das jetzt anders machen. Ich rede mit mehreren jüngeren Leuten, die gut sind. Und Schauspieler wie Kathi Angerer, Jeannette Spassowa, Bernhard Schütz, Milan Peschl, mit denen ich eine lange Geschichte habe, haben wieder bei „Nach Moskau“ mitgespielt. Das war sehr schön für mich, auch im Zusammensein. Was Rosinski versucht hat, war eine feindliche Übernahme. Leider hatte er überhaupt keinen Schimmer davon, was er als Chefdramaturg in einem Theater zu tun hat. Das ist jetzt erstmal eine große Befreiung. Jetzt muss ich selber mehr arbeiten, leider (lacht).
Das Gespräch führte Peter Laudenbach.