Im Kino: "The Salesman": Einstürzende Altbauten
Fragen nach Täter und Opfer, Sühne und Rache: Asghar Farhadis oscarnominiertes Ehedrama „The Salesman“ erkundet die Risse in der iranischen Gesellschaft.
Teheran entwickelt sich seit einigen Jahren zu einer fürchterlich formlosen Stadt, die unter schlampigen Modernisierungsmaßnahmen leidet. Die Substanz vieler Gebäude ist schlecht, sie drohen einzustürzen. Mit einem solchen Bild des Schreckens beginnt Asghar Farhadis moralische Parabel „The Salesman“. Rana (Taraneh Alidoosti, derzeit einer der größten Stars im iranischen Kino) und Emad (Shahab Hosseini) werden nachts von den Nachbarn aus dem Schlaf gerissen, weil das Fundament ihres Mehrfamilienhauses einbricht. Fluchtartig müssen sie ihre Habseligkeiten zurücklassen, vorübergehend kommen sie in der leer stehenden Dachwohnung eines Bekannten unter. Ihre provisorische Unterkunft hat jedoch eine mysteriöse Vorgeschichte – und sie wird zur Bühne für eine Ehekrise.
Eines Abends wird Rana in den eigenen vier Wänden brutal überfallen, der Täter entkommt ohne Beute. Die traumatisierte Frau schweigt aus Schamgefühl, sie geht weder zur Polizei, noch spricht sie zunächst mit ihrem Mann über den Vorfall. Im Haus machen Gerüchte die Runde, die Vormieterin soll regelmäßig Männerbesuch erhalten haben – noch immer ein Tabu in der iranischen Gesellschaft.
Farhadi bedient sich gern beim Genre des Detektivfilms
Von dem französischen Philosophen Alain Badiou stammt der Satz: „Es gibt keine allgemeine Ethik, nur Situationen, in denen wir Möglichkeiten zum Handeln entwickeln können.“ Der Satz trifft auch auf die Grundkonflikte in Farhadis Filmen zu. Rana und Emad sind ein junges Ehepaar: Sie arbeitet als Schauspielerin an einer kleinen Bühne, er als Lehrer. Sie gehören zur liberalen Mittelschicht im Iran, doch der schreckliche Zwischenfall entlarvt ihr von trügerischer Sicherheit geprägtes Selbstbild. Emad stellt eigene Nachforschungen nach dem Täter an und legt gegenüber seiner Frau ein zunehmend patriarchalisches Verhalten an den Tag. Was die Nachbarn denken könnten, ist ihm wichtiger als die Gefühle und Verletzungen seiner Frau.
Farhadi, der wie für das Oscar- und Bären-prämiertes Ehedrama „Nader und Simin – eine Trennung“ auch das Drehbuch schrieb, bedient sich in seinen Gesellschaftsporträts gerne beim Genre des Detektivfilms. Emads Ermittlungen werden zur persönlichen Obsession, er steigert sich regelrecht in Rachefantasien hinein. Dabei wirft Farhadi weniger einen psychologischen als einen soziologischen Blick auf die Menschen und ihre Beziehungen. Manche Szenen wirken wie Snapshots der Handlung, sie spiegeln das ständige Misstrauen in der iranischen Gesellschaft.
Vorwürfe, Zurückweisungen, Angst vor der Wahrheit, dazu das Theater, die Kunst als Rückzugsraum, in den die Realität doch wieder einbricht: Iran ist noch immer eine widersprüchliche Gesellschaft, in der eine Schauspielerin die Rolle einer Prostituierten bekleidet spielen muss, auch wenn der Dialog deutlich macht, dass sie es nicht ist. Immerhin wagen es die Protagonisten in „The Salesman“, zum ersten Mal im nachrevolutionären iranischen Kino über solche Absurditäten zu lachen. Dabei zählt Farhadi, der zwischenzeitlich auch in Frankreich gedreht hat, in seiner Heimat nicht zur offen agierenden Opposition – im Gegensatz zu anderen Filmemachern. Im Iran war „The Salesman“ ein Kassenerfolg: Es ist immer wieder ein Fehler, die Gesellschaft dort nach schlichtem Schema in mutige Regimekritiker und willfährige Regimetreue zu unterteilen.
Aus Protest gegen Trump nicht zur Oscarverleihung
Auch dieser Film von Farhadi, der die Frage nach Tätern und Opfern, Sühne und Rache am Ende lehrstückhaft zuspitzt, ist für den Auslands-Oscar nominiert. Auf die Ankündigung Donald Trumps, die Einreiseerlaubnis für Muslime in die USA zu beschränken, reagierte der 44-jährige Regisseur mit einer Absage: Er wird nicht zur Oscar-Gala am 26. Februar reisen, auch Hauptdarstellerin Taraneh Alidoosti hat protestiert und abgesagt.
Die böse Schlusspointe auf der Bühne ist so über Nacht aktuell geworden. Farhadi stellt Arthur Millers Theaterstück „Tod eines Handlungsreisenden“ Gholam Hossein Saedis Drehbuch für den iranischen Film „Die Kuh“ von 1969 gegenüber – zwei Texte, die von den Möglichkeiten persönlicher Veränderung handeln. Emad kann nicht aus seinem Rollenmuster ausbrechen. Er scheint weniger den Täter rächen zu wollen als vielmehr die heuchlerische Moral der iranischen Gesellschaft.
In 6 Berliner Kinos, OmU: fsk, Hackesche Höfe, Kino Kulturbrauerei, Rollberg
Bahareh Ebrahimi
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