Bären-Gewinner Farhadi: "Mittelschicht zahlt Preis für Aufbruch"
Der Iraner Asghar Farhadi hat mit „Nader and Simin“ den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen. Eine Begegnung mit dem Regisseur.
Asghar Farhadi ist ein mutiger Mann. Er kennt die Tücken der Zensur und der Diplomatie, schließlich dreht er Filme im Iran. Und er riskiert etwas, als er nicht nur auf der Pressekonferenz nach der Premiere von „Nader and Simin: A Separation“ die Abwesenheit seines Freundes Jafar Panahi bedauert, sondern auch in seiner Danksagung an den im Iran zu sechs Jahren Haft und 20 Jahren Berufsverbot verurteilten Regie-Kollegen erinnert. Mit dem Goldbären in der Hand, dem ersten, der je an einen Iraner ging. Farhadi kann nicht sicher sein, was er mit der Erwähnung Panahis aufs Spiel setzt.
Der 38-jährige Filmemacher ist auch ein glücklicher Mann, schon Tage vor der Bärenverleihung . Freundlich, geduldig, zuvorkommend beantwortet er die Fragen der westlichen Journalisten, seit Mittwoch sitzt er im Hyatt-Hotel und gibt Interviews. Fast wirkt er etwas verlegen ob des Enthusiasmus, mit dem „Nader und Simin“ aufgenommen wurde. In Teheran, auf dem dortigen Fajr-Festival, hat er bereits am Mittwoch drei große Preise erhalten. Ein geschickter Schachzug des Regimes? Jedenfalls auch ein Hoffnungszeichen. Kritische Filmemacher haben das offizielle Festival in diesem Jahr auch als Plattform für Solidaritätsadressen an Panahi genutzt; zudem spricht Farhadis Familiendrama zahlreiche Tabuthemen an. Schon die Eröffnungsszene zeigt ein Paar vor dem Scheidungsrichter; die Spannungen zwischen einer bürgerlichen und einer ärmeren Familie führen zum offenen, unlösbaren Konflikt. „Nader und Simin“ ist eine Tragödie aus dem Alltag der Teheraner Mittelschicht.
Ja, sagt Farhadi, der Film kommt im Iran in die Kinos, wie seine früheren auch. Und ja, es ist sein Milieu, das der Künstler und Intellektuellen, von dem er erzählt. Von der wachsenden Mittelschicht, vom Alltag, den Familien, dem Clash der Generationen. Von der Zerrissenheit zwischen traditionellem Wertesystem und dem Aufbruch in die Moderne. Darum ging es auch in „About Elly“, der 2009 den Silbernen Bären gewann. „Teheran ist keine homogene Gesellschaft, die verschiedenen Schichten schreiten nicht im gleichen Tempo voran“, so Farhadi. „Den Preis für die schnelle Modernisierung unseres Landes zahlt vor allem die Mittelschicht.“ Das Bürgertum zerreißt es am meisten.
In „Nader und Simin“ wollte er widersprüchliche Perspektiven aufzeigen. „Die Ärmeren kämpfen für ein besseres Auskommen und für Gerechtigkeit. Sie glauben, die Mittelschicht behindert ihren Zugang zum Wohlstand.“ Die Bessergestellten wiederum haben weniger ökonomische als politische und kulturelle Interessen. „Sie glauben, dass die Ärmeren, die oft religiöser sind, den Fortschritt bremsen“. Farhadi macht sich große Sorgen wegen des sozialen Sprengstoffs, der in der wechselseitigen Schuldzuweisung steckt.
Im Film ruft Razieh, die Pflegerin des Großvaters, eine Hotline an, um zu erfragen, ob sie als gläubige Frau den alten Mann zum Waschen ausziehen darf. Solche Hotlines gibt es tatsächlich. „Die Ayatollahs haben Büros eingerichtet, in denen junge Kleriker die Anfragen mithilfe des Korans und von Fachliteratur beantworten.“ Farhadi sieht das ungläubige Staunen seiner Gesprächspartnerin und fügt lächelnd hinzu, dass auch viele gebildete Iraner davon eher nichts wissen.
Die Schauspieler hatte er vor dem Dreh in das jeweilige Milieu ihrer Figur geschickt. So recherchierte die Darstellerin der Razieh in einem ärmeren Stadtviertel; der Darsteller des Richters hielt sich viele Tage im Gericht auf. Sie proben lange, damit die Schauspieler ihre Charaktere entwickeln können. Seine Anwesenheit sollen sie am Set am besten vergessen.
Asghar Farhadi ist ein Regisseur der Frauen. „Fireworks Wednesday“ (2006) beginnt mit einer Mopedfahrt, bei der sich der wehende Tschador der Mitfahrerin in den Speichen verheddert. Es geht um eine junge Frau, die bei ihrem Putzjob in ein veritables Teheraner Familienchaos gerät. In „About Elly“ verschwindet eine Frau beim Strandurlaub befreundeter Familien. Das Ferienhaus wird zur Druckkammer, in dem die alten, rigiden Rollenvorstellungen vor allem der Männer hinter der Fassade von Liberalität und Modernität zum Vorschein kommen. Auch in „Nader und Simin“ sind es die Frauen, die das von den Männer verursachte Dilemma pragmatisch zu lösen versuchen.
Die unerschrockenen Iranerinnen, die sich nicht einschüchtern lassen, haben Farhadis größten Respekt. Glaubt er, dass der demokratische Funke in der Region auch auf sein Land überspringt, dauerhaft, unumkehrbar? „Ich hoffe jeden Tag, aber ich habe auch Angst.“ Als er am Samstagabend im Berlinale-Palast den Bär entgegennimmt, äußert er noch eine Hoffnung. Dass Panahis Probleme bald gelöst sind. Und dass sein Freund nächstes Jahr auf dieser Bühne stehen kann.