Feinde der Demokratie: Eine reiche Gesellschaft attackiert sich selbst
Unzufriedenheit mit dem „System“: Europas Demokratien müssen sich wehren gegen Feinde an rechten wie linken Rändern
Sommerlich, in leuchtend rotem Blazer und geblümtem Kleid, tritt Franziska Giffey ans Rednerpult. Die Familienministerin spricht vor dem Verein Berliner Kaufleute und Industrieller über das Thema, dem ihre Passion und Mission gilt: Je eher ein Menschenkind mit dem Lernen anfängt, desto besser erlangt es im späteren Leben Wissen. Nichts bestimmt also die Zukunft so elementar, wie frühkindliche Bildung. Um deren Rolle als unterschätzter Wirtschaftsfaktor geht es hier. Im Publikum des 1879 gegründeten Vereins dürften kaum solche Eltern gewesen sein, die zu den dreißig Prozent gehören, die ihren Kindern nicht früh schon vorgelesen haben. Erkenntnisse zum Wissenserwerb außerhalb ihres Milieus sind gleichwohl auch für die Wirtschaft im Zeitalter der Digitalisierung und Globalisierung von akuter Bedeutung.
Giffey greift dann zusätzlich ein paradoxes Phänomen auf, das Europas Demokratien zu schaffen macht, inklusive Deutschland. Obwohl es dem reichen Land materiell gut geht wie noch nie, obwohl es so wenig Arbeitslose gibt wie seit Jahrzehnten nicht, dominieren Klagen, Verdruss, Ansprüche und Beschwerden den öffentlichen Diskurs. „Die Leute haben eine Grundunzufriedenheit“, konstatierte die Sozialdemokratin, ihnen sei „die Dankbarkeit abhandengekommen.“ Engagement, fügte sie hinzu, mache zufriedener, etwa als Lesepate: „Frag’ nicht immer, was du bekommst, sondern gib’ auch etwas.“
Das klang fast wie ein fernes Echo auf John F. Kennedys berühmtes Leitmotiv. Im Januar 1961 hatte er in seiner Rede zum Amtsantritt als Präsident der Vereinigten Staaten erklärt: „Fragt nicht, was euer Land für euch tun kann – fragt, was ihr für euer Land tun könnt.“ Wie ein sehr fernes Echo, denn vom enthusiastischen Demokratiepathos Kennedys trennen solche bescheiden wirkenden Vorschläge mehrere weltpolitische und technologische Epochen. Bei allem weitsichtigen Aufbruch, der Giffeys Bildungsvision signalisiert, scheint eine Art ratloser Scheu in ihrer Aussage zur Dankbarkeit auf. Was ist bloß los?
König Horst ohne Thron
„Wir sind das Volk!“, skandieren neurechte Nationalisten, insbesondere im Osten, seit Jahren auf Deutschlands Straßen. In ihrem Slogan lassen sie die Juxtaposition mitschwingen: Ihr nicht! Ihr, die einen, seid die Eliten, die Regierenden, die Lügenpresse, und ihr, die Anderen seid die Fremden, die Eindringlinge – das ist „das System“. Die einen holen die Anderen ins Land, sie schützen unsere Grenzen nicht und schätzen uns, die Ureinwohner, nicht. „Umvolkung“ lautet die rassistische Streitvokabel für diese Annahme bei Neonazis und Verteidigern des Abendlandes, in Wahrheit: des Habendlandes.
Unattraktiv und hinderlich, so scheint die Europäische Union mit ihren repräsentativen Demokratien ihren Gegnern im Weg zu stehen. Und diese Ränder werden breiter. Das demonstriert auf seine Weise sogar der bayerische Innenminister Horst Seehofer, seit er zum Mitregieren nach Berlin zog. Mit der Anmutung eines entthronten Königs stellte er beleidigt fest, dass dort eine Art fremder Kultur existiert: An der Garderobe gibt man seine Krone ab, und am Kopfende des Kabinettstischs sitzt jemand anderes als er! Noch dazu eine Frau.
Um allen drei Skandalen auf einmal zu begegnen, schuf König Seehorst ein Riesengemälde auf der Leinwand Europas. Wegen dieser Frau drängen von allen Seiten Fremde herbei, da muss der Mann Dämme bauen. Weil aber derzeit kaum Migranten kommen, entwarf Thilo Sarrazin nun in der „FAZ“ das Drama einer „explosionsartigen Bevölkerungsentwicklung in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten“, die trotz dortigen Fortschritts kein Ende nehme, denn „offenbar ticken die Menschen dieser Länder anders“, wobei einer Vielzahl der anders Tickenden der Sinn nach Auswanderung stehe. Sie wollten nach Europa.
Ohne Demokratie, suggeriert der Volkswirt, lösten sich Bevölkerungsfragen leicht: „China hatte in den achtziger Jahren nur deshalb Erfolg mit seiner Ein-Kind-Politik, weil die Instrumente diktatorischen Zwangs zur Verfügung standen.“ Anders jedoch „das demokratisch regierte Indien“. Sarrazin sah, es „scheiterte gleichzeitig bei seinen Kampagnen zur Sterilisierung und Empfängnisverhütung“.
Dem Ansturm vorbeugend trachten reaktionäre Kräfte also danach, Europa abzuschaffen. In Großbritannien bekamen Brexit-Hardliner vergangene Woche Schützenhilfe von US-Präsident Donald Trump, der dabei mit dem Finger Richtung Deutschland zeigte. Dort steige mit der Zahl der Migranten die Kriminalitätsrate. Dass sie vielmehr seit 1992 nicht so niedrig war, ignoriert Trump ebenso wie die Neonationalisten in Deutschland.
Vom „Indoktrinationscharakter der Leitmedien“ sprechen heute schon Akademiker wie der Wahrnehmungsforscher Werner Mausfeld, wenn er erklärt, repräsentative Demokratien seien „Elitedemokratien, also de facto Wahloligarchien“. Warum auch, fragt der Kieler Emeritus, „sollten Machteliten ein Interesse an wirklicher Demokratie haben?“
Demokratie ist nicht cool genug?
Mit solchen Argumenten schwappen Ressentiments der Rechten unmerklich über in die Diskursgebiete der neuen Linken. In Teilen des linken Milieus gilt Demokratie, zumal die Sozialdemokratie, inzwischen schlicht als uncoole Kompromisslerei lauwarmer Leute, denen es an radikalem, utopischem Horizont mangelt. Daran kann auch ein europäischer Visionär wie Emmanuel Macron wenig ändern.
Auf dieser Horizontlinie bewegt sich etwa die indische Politologin Nikita Dhawan. Im Juni trat sie bei der Berliner Veranstaltungsreihe „Colonial Repercussions“ der Akademie der Künste und des Hauses der Kulturen der Welt auf. Es ging dabei um die Suche nach „Visionen einer postkolonialen Zukunft“.
Dhawans „postkolonial-feministische Lesart von Gerechtigkeitsdiskursen“ bezeichnet „euro-amerikanische Suprematie und Paternalismus“ als Merkmal einer westlich heteronormativen, kapitalistisch patriarchalen, universalistischen Matrix der Macht, zu der auch die Vereinten Nationen und die internationale Justiz mit ihrem Menschenrechtsimperialismus gehören.
Schon die Begrifflichkeit ist bedrohlich: Noch wer sich im System gegen das System wehrt, ob mit Amnesty International, Greenpeace, Attac oder Occupy Wallstreet, stützt und bestätigt demnach am Ende auch nur das System, und Hashtag-Aktivismus zeuge genau genommen nur von den Privilegien der iPhone-besitzenden Klasse, die bei Protestpartys auf den Straßen tanzt.
Etwas erschreckt war Dhawan offenbar davon, dass unterdessen auch ein Ultrarechter wie Trumps Ex-Berater Steve Bannon von der Dekonstruktion des Staates spricht. So warnt sie ihre Anhänger vor der grassierenden „linken Staatsphobie“ und Anomie. Vielmehr gelte es, Inkonsistenzen, Fehler und Widersprüche des Staates auszubeuten, denn es gebe ja ein „normatives Dilemma westlicher Begriffe wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit“. Auch da lugt, immerhin, leiser Zweifel hervor. „Andererseits“, räumt Dhawan nun ein, „bringt die Kritik eines universellen Gerechtigkeitsbegriffes die Gefahr einer kulturrelativistischen Legitimierung von Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeiten mit sich, die als lokale Praktiken verteidigt und aufrechterhalten werden.“
Gewiss, denn auf solche Praktiken oder auf „Traditionen“ der Gewalt könnten sich auch Ethno-Nationalisten, Misogyne und Xenophobe berufen. Rechte Kritik am Universalismus der Menschenrechte, wenngleich in ihrer Intention völlig anders gelagert, klammert sich an ähnliche Versuche der Legitimation: Wer hat überhaupt die Normen erstellt? Wieso soll bei uns gelten, dass Fremde dieselben Rechte haben – wir sind doch das Volk! Dass alle Menschen gleiche Rechte haben, ist eine Abstraktion!
Gefahr von rechts - wie von links
Rechte Attacken auf Demokratie richten sich gegen zu viel Inklusion. Linke Attacken auf Demokratie richten sich gegen zu wenig Inklusion. Die Rechten liegen völlig falsch, die Linken verkennen den Rahmen und den Spielraum, den Europas Demokratien der Inklusion bieten. Parallelen finden sich bei den Antidemokraten an rechten wie linken Rändern auch im Antiamerikanismus und Antikosmopolitismus, im Antisemitismus, im Ressentiment gegen Israel und den Kapitalismus.
Völlig klar ist, dass Märkte reguliert werden müssen. Völlig klar ist ebenso, dass Demokratien, entstanden auf dem Geschichtsgebirge der Traumata vieler Generationen, alles andere sind als perfekt und niemals völlig perfekt sein können, sondern sich immer im Prozess befinden. Demokratie abzulehnen, sich nicht an ihr zu beteiligen, sie zu attackieren und zu schwächen, das ist gerade jetzt und heute, und gerade in der Linken nachgerade verantwortungslos – jenseits jeder politischen Vernunft.
Weitaus wirksamer ist Franziska Giffeys Projekt zur Chancengleichheit der Kinder, die bald, nach dem Sommer zurückkehren werden an ihre Schulen. Da geht es um reale Zukunft.