Treffen mit Motörhead-Sänger Lemmy: Eine Legende trinkt Limo
Motörhead sind Stammgäste beim Wacken Open Air. Letztes Jahr mussten sie ihren Auftritt abbrechen. Jetzt sind sie zurück. Ein Gesundheits-Check mit Frontmann Lemmy Kilmister.
Vor ziemlich genau einem Jahr geriet der Motör ins Stottern. Zwar hatte er schon früher immer wieder mal Aussetzer gehabt. Doch 2013 sprang er nicht wieder an. Die alte Dampflokomotive des Rock ’n’ Roll kam auf dem weltweit größten Heavy-Metal-Festival, dem Wacken Open Air, zum Stillstand. Aus dem Führerhaus stieg schwankend der Lokführer Ian „Lemmy“ Kilmister, seit 38 Jahren im Dienst an Bord des Hochgeschwindigkeitszugs namens Motörhead, und verschwand hinter den Kulissen.
Manche seiner Fans mochten bis dahin gehofft haben, dass dieser Zug ewig verkehren würde, dass er sie bis zum jüngsten Tag auf eine Reise in die Grenzregionen kontrollierten Wahnsinns mitnehmen würde. Doch im Laufe des Jahres wurden weitere Konzerte abgesagt, die Meldungen klangen immer düsterer: Herzschrittmacher, Defibrillator, Hämatom, Diabetes – es wurde klar, dass die Unverwüstlichkeit des Schwermetalls nicht auf diejenigen übergeht, die sich mit seinem Namen schmücken. Die Metal-Szene, die wie keine andere Popsparte den Tod ästhetisiert hat, sah sich nun mit ihm konfrontiert. Lemmy Kilmister, geboren 1945 im englischen Stoke-on-Trent, der unvergängliche Gottvater des Rock ’n’ Roll und des Metal, war sterblich geworden.
Sterblich, ja – aber gestorben ist er nicht. Ein knappes Jahr nach der Zäsur ist Lemmy mit Motörhead zurück auf Tour und tritt nächste Woche in Wacken auf. Die Abstände zwischen den Konzerten sind größer geworden, er benötigt zwischen den Songs mehr Pausen. Aber er macht trotzig weiter. Weil er, wie er schon oft gesagt hat, für nichts anderes qualifiziert sei und sich ohnehin nichts anderes vorstellen könne.
Im schweizerischen Wetzikon empfängt er zu einem der raren Interviews in diesem Jahr, wie eh und je vor einem Spielautomaten sitzend, mit Kavallerie-Hut und Totenkopfring am Finger. Schmaler und grauer ist er geworden. „Ich musste mir einen Hometrainer anschaffen, können Sie sich das vorstellen?“ Ehrlich gesagt, nein. Lemmy verhält sich zu Fitness wie ein Papst zu einem Kondomautomaten. Seine Hände zittern leicht, ein Pflaster, wohl von einer Spritze oder einer Infusion, klebt auf dem tätowierten Unterarm. Statt seines Lieblingsgetränks Jack & Coke trinkt er Diätlimo. Wie geht’s, Lemmy? „Es geht mir besser. Aber ich bin noch dabei, mich zu erholen. Drei Mal musste ich letztes Jahr ins Krankenhaus. Es dauert eben alles ein Weilchen.“
Früher bot Lemmy seinen Gästen Whisky im Plastikbecher an
Um zu verstehen, wie absurd die Kombination „Diätlimonade, Hometrainer & Lemmy“ auf Motörheads-Fans wirken muss, genügt ein Blick auf das Cover von „Orgasmatron“ (1986), einem der archaischsten Motörhead-Alben. Es bringt das Selbstverständnis der Band und ihres Frontmanns perfekt auf den Punkt. Eine Lokomotive rast funkensprühend durch die Nacht. Die Rauchkammer mündet in einer Monsterfratze, den Kessel ziert das Pik-Ass-Symbol. Im englischen Sprachraum gilt es als Karte des Todes. Genau so wollten Motörhead wahrgenommen werden, als sie sich 1975 im London der ersterbenden Flower-Power- und der beginnenden Punk-Ära gründeten: roh, brachial, schnell, gefährlich, unaufhaltsam, selbstzerstörerisch – die Blumenkinder des Bösen. Aus den sechziger Jahren brachten sie den Freiheitsdrang mit, aus ihrer Gegenwart sogen sie den Anarchismus und Nihilismus des Punk auf, verquirlten ihn mit der maschinellen Kälte des Heavy Metal und konterkarierten diesen mit der Lebenslust urwüchsigen Rock ’n’ Rolls.
Die Rechnung ging auf. Noch Anfang der neunziger Jahre wurden Motörhead unter dem Rubrum „grauenhafte Orgie“ geführt und als jugendgefährdend eingestuft. Lemmy bestärkte diese Sicht gezielt, schwärmte von synthetischen Drogen, verteufelte jeglichen Sport außer Sex und bekundete seine Verachtung für Abstinenzler, Politiker, Religiöse und Vegetarier. Doch anders als berufspubertäre Schockrocker blieb der belesene, vom hintersinnigen Witz Monty Pythons geprägte Brite stets Gentleman. Kein Interview, bei dem dem Gast nicht Whisky im doppelten Plastikbecher eingeschenkt und Zigaretten angeboten wurden. Nun ja, eben bis zu diesem Jahr. Dem Jahr der Diätlimonade.
Im Nachhinein wirkt es wie eine Vorwegnahme, dass Lemmy vor vier Jahren auf dem Album „The Wörld is Yours“ sang: „I know the law, I know how to die.“ Andererseits stand dem Tod seit jeher ein eigenes Abteil in Motörheads Schnellzug zur Verfügung. So raunzte Lemmy etwa auf dem Album „Bastards“ von 1993: „Death or glory, death or glory / Blood and iron it’s the same old story.“ Ein Jahr später auf „Sacrifice“ wartete er sogar mit einer Lösung aller Welträtsel auf: „The answer to life’s mystery is simple and direct– sex and death!“
Lemmy ist fasziniert von "Game of Thrones": "Da sind alle mies drauf."
Diese Todes-Faszination spiegelt sich auch in Lemmys Sammlung von Nazi-Devotionalien und seiner ausufernden Lektüre über die beiden Weltkriege. Tod, Wahn und Grauen, alles klar – aber warum hängt sich einer, der den schwulen, schwarzen, christlichen Sänger Little Richard vergöttert, Hitlers Servietten in die Butze? Schließlich ist Lemmy alles andere als ein Nazi. Seine Werte sind libertinär und sein soziales Umfeld ist eine pluralistische Freakshow, kein Lebensborn. „Ich sammle das Zeugs aufgrund der Ästhetik. Die Bösen haben einfach die besseren Uniformen. Ansonsten hat es keine Funktion mehr. Die Nazis sind Geschichte. Heute gibt es andere Probleme. Man verschwendet öffentliche Gelder, um ein paar 90-Jährige zu fangen, die ohnehin in zwei Jahren abkratzen. Mich interessiert die Nazi-Zeit in historischer Hinsicht. Und ich glaube, dass ohne Hitler alles anders gekommen wäre. Am Tag bevor er sich umgebracht hat, haben die Deutschen noch gekämpft. Kaum war er tot, haben sie aufgegeben.“
Obwohl Lemmys Lebensfreude legendär ist, ist der Kern seiner Weltgefühls ein apokalyptischer. Immerhin könne jeden Moment „ein Irrer eine Atombombe abwerfen und ein anderer Irrer wirft eine zurück. Das war’s dann. Oder irgendetwas entwischt aus den Laboren unserer Experten für chemische Waffen. Natürlich zufälligerweise in Afrika, das in Wahrheit doch allen am Arsch vorbeigeht.“ Wirkte er zu Beginn des Gesprächs noch abwesend, lebt er nun, ausgerechnet bei den morbiden Themen, auf. Seine Stimme gewinnt an Kraft, die müden Augen blitzen. Im Hintergrund des Raumes fläzt schmunzelnd sein Roadie Tim Butcher. Er kennt das alles, jede Aussage, jede Pointe, aus mehreren Dekaden gemeinsamen Lebens zwischen Tourbus, Bühne und Hotel.
Motörhead ist im Mainstream angekommen
Aktuell begeistert sich Lemmy für die vor Gewaltszenen nur so strotzende, von einem zutiefst pessimistischen Menschenbild geprägte Fernsehserie „Game of Thrones“. Deren Grundstimmung kommt düsteren Motörhead-Songs wie „Orgasmatron“ oder „March ör Die“ ziemlich nahe. Lemmy findet: „In dieser Serie sind alle Charaktere mies drauf. Da gibt’s keine glücklichen Menschen. Zwar glauben sie manchmal, dass sie glücklich seien, doch zack, schon erwischt es sie. Und ständig bringen sie ihre Helden um. Alle Helden müssen sterben.“ Diese Erkenntnis hat auch die Adepten Motörheads ereilt. Andererseits steuert Lemmy nun auf eine säkulare Form der Unsterblichkeit zu: Im neuen Jahrtausend hat der Mainstream Motörhead endgültig akzeptiert. Die öffentliche Wahrnehmung der Band hat sich grundlegend gewandelt. Motörhead sind angekommen im Kulturkanon, sie werden auf akademischen Konferenzen analysiert, man hofiert Lemmy in Talkshows und lud ihn sogar ins Parlament von Wales ein, um über Drogenpolitik zu referieren.
Diese Entwicklung wurde auch dadurch begünstigt, dass der rotzige Punk- Metal von Motörhead ein perfektes Gegenprogramm zum braven Sound von Retortenbands und Castingsternchen bildet. Und wen die political correctness nervt, der kann sich beim Motörhead-Hören erholen. Zudem lässt es Lemmy nicht mit der Apokalyptik bewenden. Gerade im Angesicht des prophezeiten Untergangs ruft er dazu auf, das Leben zu genießen und propagiert den Rock ’n’ Roll als „einzige Religion, die dich nie hängen lässt“.
Wie einst Marc Aurel führt er sich ständig die Vergänglichkeit alles Seienden vor Augen, doch nur, um daraus Stärke zu beziehen. Aurels Zitat „sei wie ein Fels, an dem sich beständig die Wellen brechen! Er bleibt stehen, und rings um ihn legen sich die angeschwollenen Gewässer“ könnte auch von Lemmy stammen. Na ja, man müsste noch ein paar Schimpfwörter hineinmogeln. Wie fühlt sich das an, Lemmy – der Marc Aurel des Rock ’n’ Roll? Ein abschätziger Blick trifft den Fragesteller: „Wenn man anfängt, den Rock ’n’ Roll zu analysieren, tötet man ihn.“
Motörhead treten am 1.8. in Wacken auf. Am gleichen Tag erscheint das Album „Aftershock – Tour Edition“ (Rykodisc)
Jörg Scheller
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