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Wicki in Wacken. Metal-Fan im Festivaldorf in Schleswig-Holstein.
© Philipp Guelland/ddp

Heavy-Metal-Festival: Wacken: Hart, aber herzlich

Kontrollierter Wahnsinn: Wacken Open Air gilt als das größte Heavy-Metal-Festival der Welt. Und als das friedlichste

115 Bands und mehr als 75 000 Zuschauer: Das Wacken Open Air ist das größte Heavy-Metal-Festival der Welt. Die Fans begeistern sich aber nicht nur für die Auftritte ihrer Helden. Die Stimmung und der Charme dieser Veranstaltung rund um das kleine Dorf in Schleswig-Holstein faszinieren sie Jahr für Jahr. Das vergangene Wochenende hat gezeigt: Der Kult wird immer größer. Die tödliche Loveparade von Duisburg hat hier keinen abgehalten. Wacken gilt als laut und bedröhnt, aber gewaltfrei. Auf dem freien Feld sind tödliche Panikfallen so gut wie ausgeschlossen. Man hat in Wacken über die Jahre die organisatorische Erfahrung gesammelt, die nötig ist, um mit einer so großen und keineswegs nüchternen Menschenmenge umzugehen.

„W:O:A“ klebt auf den Heckscheiben. Die Abkürzung steht für das Heavy-Metal-Festival Wacken Open Air. Bereits am Dienstag, zwei Tage vor dem offiziellen Beginn der Veranstaltung, bahnen sich die Autos den Weg Richtung Wacken. Sie kommen aus dem gesamten Bundesgebiet, Holland, Italien, Norwegen und Spanien. Im Dorf hupen die Metaller und verleihen ihrer Leidenschaft mit lauten Schreien Ausdruck: „Wacken“. Nachher trifft man die Wacken-Männer (Frauen sind dramatisch in der Unterzahl) in vollen Zügen der Bahn.

Wacken gleicht während des Festivals einem Heerlager. Die 1800-Einwohner-Gemeinde ist auf den Ansturm gut vorbereitet. Mitten durch das Dorf führt die Straße zum Festival-Gelände. Während dieser Augusttage ist der Übergang von Wacken-Bewohnern und Wacken-Eroberern allerdings fließend. Die Einwohner haben die Metalheads, so nennen sich die Fans, liebgewonnen. Erster Anlaufpunkt für diese der wohl bekannteste „Edeka“-Markt Deutschlands. In der Dorfmitte öffnet der Ladenbesitzer seine Filiale nur noch einmal im Jahr: während des Wacken Open Air. Kinder bessern mit der Lieferung von Getränken und Lebensmittel mit einem Kettcar zum Gelände ihr Taschengeld auf. Ältere Bewohner machen ungeniert den Metal-Gruß; zwei abgespreizte Finger.

Vor den Häusern werden Bars improvisiert und Frühstück angeboten. Die Metaller freuen sich über so viel Gastfreundschaft und haben sich mit manch einem Dorfbewohner angefreundet. Einer von ihnen ist Opa Willi. Seit Jahren verkauft er am Straßenrand Marmelade. Jetzt hat er seinen 90. Geburtstag gefeiert und Passanten ein Lied auf seiner Trompete gespielt. „Ich werde, wenn ich mal Kinder habe, diese auf jeden Fall nach Wacken mitnehmen“, ist sich ein Besucher sicher.

Was unterscheidet diese Veranstaltung von anderen Festivals? „Die Leute sind hier total friedlich und wir lernen unglaublich schnell viele Menschen kennen“, sagt Martin Schröder. Der 22-Jährige kommt aus Weißenfels und studiert in Merseburg Wirtschaftsingenieurwesen. Er ist zum ersten Mal bei diesem Wahnsinn im Norden und gehört zu den Jüngeren hier: „Die Erwartungen waren groß, sind aber noch mal übertroffen worden.“

Beim Gang über das 200 Hektar große Festivalgelände fällt auf: Wer nicht Schwarz trägt, ist gleichsam ein weißes Schaf. T-Shirts sind der große Renner in Wacken. An den Ständen bilden sich schon lange vor Öffnung Menschenschlangen. Auf dem Zeltplatz gibt es ganze Straßenzüge, die nach den Metal-Größen vergangener Tage benannt werden. Viele Fans verkleiden sich, manche als Weihnachtsmänner, andere als Wikinger mit Helm. Auch Exhibitionisten haben freie Bahn. Es gab in diesem Jahr eine Bar, in der man nur Bier bekam, wenn man sich nackt in einen großen Waschzuber setzte. Eine Kräuterlikör-Bar für ein Dutzend Trinker wurde von einem Kran in die Höhe gezogen – zur schönen Aussicht über den Festivalacker. Unbekannte Bands, die es nicht auf eine der insgesamt sechs Bühnen geschafft haben, können sich, mit Gitarre und Schlagzeug bewaffnet, bei einem spontanen Konzert empfehlen, ohne dass sie sofort von den Sicherheitskräften unterbrochen werden.

Beim Wacken Open Air geht es im Vergleich zu anderen Festivals bemerkenswert harmonisch zu, vor allem, wenn man den Alkoholkonsum und die Dezibelstärke berücksichtigt. Die Menschen leben mit- und nicht nebeneinander. Es ist dieses Gefühl der Zusammengehörigkeit, das die meisten Jahr für Jahr wiederkommen lässt – trotz der stetig steigenden Preise; 130 Euro kostete das Ticket diesmal. Das Maß Bier braucht sich auf dem Gelände mit gut acht Euro nicht vor dem Oktoberfest zu verstecken. Der Gang zur Dusche wird mit 2,50 Euro berechnet.

Wacken ist ein Phänomen. Der Erfolg des Dokumentarfilms „Full Metal Village“ hat den Zustrom noch verstärkt. Der Mythos des Familiären hält sich ungebrochen, es liegt noch immer der chaotische Charme der frühen Jahre in der Luft, während der Festivalbetrieb inzwischen komplett kommerzialisiert ist. Wie sonst sollen 75 000 Besucher fünf Tage lang untergebracht, versorgt und bei Laune gehalten und die Gagen für alte Schlachtschiffe wie Slayer, Mötley Crüe, Soulfly, Alice Cooper, Immortal, Iron Maiden und die Senkrechtstarter aus Frankreich, Gojira, bezahlt werden?

Das Wacken Open Air hat es bisher geschafft, die Grenze von der Underground-Veranstaltung, die 1990 von Thomas Jensen und Holger Hübner ins Leben gerufen wurde, hin zum Mainstream-Event nicht komplett zu überschreiten. So sehen es jedenfalls die Metal-Fans. Sie gelten gemeinhin als ehrlich und offen. Betrachtet man die Tage von Wacken als „Survival Training“ auf einem gigantischen Camping- und Rummelplatz, dann ist diese Szene und ihre Musik erstaunlich lebendig.

Manuel Holscher

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