"Dheepan" gewinnt in Cannes: Goldene Palme für Frankreich
Jacques Audiard holt mit seinem Flüchtlingsdrama "Dheepan" die Goldenen Palme von Cannes. Der eigentliche Gewinner ist jedoch Frankreich selbst. Überraschend viele Preise gingen dieses Jahr an die eigenen Landsleute. Eine Dominanz, die im Rückblick für Kritik sorgt.
Jacques Audiard immerhin bleibt cool, reichlich cool sogar. Gerade hat er, zum Jubel der Franzosen im über 2000 Gala-Gäste fassenden Grand Théâtre Lumière, die Goldene Palme für sein Flüchtlingsdrama „Dheepan“ gewonnen, da findet er eine solche Auszeichnung aus den Händen der Jury-Vorsitzenden Joel und Ethan Coen bloß „ziemlich außergewöhnlich“. Um sogleich, im Blick auf das legendäre amerikanische Regisseurs-Brüderpaar, anzufügen: „Es hätten natürlich auch die Brüder Dardenne sein können.“
Nun, die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne, 1999 und 2005 bereits doppelt verwöhnte Palmen-Gewinner, stammen zwar aus dem französischen Teil Belgiens, werden an diesem Abend der frankophonen Triumphe aber offenbar mal eben eingemeindet. Wobei die anderen Glücklichen unter den frischen Gewinnern allesamt näher am Wasser gebaut sind als der betont nüchterne Audiard.
Emmanuelle Bercot, die sich den Schauspielerinnenpreis mit der bereits nach New York abgereisten Rooney Mara (ausgezeichent für ihre Rolle in Todd Haynes' „Carol“) teilen muss, dankt schwer gerührt ihrer Regisseurin Maiwenn. Einer „Unbekannten von 46 Jahren“ habe diese die Hauptrolle ihres Liebesfilms „Mon roi“ anvertraut, gibt sich die durchaus erfolgreiche Schauspielerin und Regisseurin betont überbescheiden - und lässt sich fortan kaum vom Mikro trennen.
Die Freudentränen der Franzosen
Auch Vincent Lindon, als Langzeitarbeitsloser in Stéphane Brizés Sozialdrama „La loi du marché“ überzeugend, steigert sich in eine nahezu intime Liebeserklärung an seinen Regisseur hinein; seine Tränen finden ebenfalls vielfachen Widerpart im Parkett. Und Agnès Varda, die Grande Dame der Nouvelle Vague? Nach zunächst ruhig umsichtiger Dankesrede zeigt sie sich ebenso glücklich erschüttert - über die Palme für das Lebenswerk.
Grund zu Freudentränen haben die Franzosen bei der Schlusszeremonie dieser 68. Filmfestspiele von Cannes allemal - ein wenig überraschend aber kommt diese Häufung doch. Sehr kritisch war immer wieder die Überrepräsentanz französischer Filme im Wettbewerb betrachtet worden, zwei der fünf Beiträge fielen im Verlauf des Festivals sogar weitgehend durch. Im Rückblick nun fällt - angesichts der kompletten Nichtbeachtung starker Konkurrenten durch die Jury, man denke etwa an „Youth“ von Paolo Sorrentino und „Mia madre“ von Nanni Moretti - diese Dominanz noch krasser aus.
Darf man, als Nichtfranzose, diese Entwicklung mal eben garstig weiterdenken und ein paar Krokodilstränen in den Champagner gießen? Thierry Frémaux und sein Team mögen den Anteil französischer Filme im Wettbewerb einfach beherzt weiter erhöhen. Nicht schlichte fünf von 19 Titeln, sondern nächstes Mal vielleicht zehn? Statistisch zumindest lässt sich die Palmenwahrscheinlichkeit so mit einem Schlag verdoppeln.
Jury würdigte Filme mit politischen oder sozialen Anliegen
Im Ernst: Diese Jury unter den Coen-Brüdern, der außerdem Xavier Dolan, Sophie Marceau, Jake Gyllenhaal, Sienna Miller, Guillermo del Toro, Rossy de Palma und die Sängerin Rokia Traoré angehören, will gewiss in anderer Hinsicht Zeichen setzen. Gezielt hob sie die wenigen gegenwartsbezogenen Filme mit politischem oder auch sozialen Anliegen heraus - und setzt sich damit von den märchenhaften oder anderweitig verspielten Stoffen ab.
„Dheepan“ erzählt von drei bürgerkriegstraumatisierten Tamilen, die sich in der Pariser Banlieue unter widrigsten Umständen zu einer Familie zusammenraufen. „La loi du marché“ schickt seinen Hauptdarsteller nach einer demütigenden Behörden- und Bankenodyssee in einen miesen Job im Großsupermarkt. Und der Mexikaner Michel Franco, als Regisseur von „Chronic“ mit dem Drehbuchpreis ausgezeichnet, schildert den Alltag eines Pflegers, der todkranke Patienten behutsam ins Sterben begleitet.
Auch der Große Preis der Jury, sozusagen die "Silberne Palme“, für „Son of Saul“ des jungen Ungarn László Nemes ist vor allem in polithistorisch engagiertem Zusammenhang zu verstehen. Der Film reinszeniert Auschwitz mit den Augen eines Sonderkommando-Häftlings, der ein totes Kind nicht verbrennen, sondern nach jüdischem Ritual bestatten will.
Der Cannes-Jahrgang konnte nur bedingt überzeugen
Der Jurypreis für „The Lobster“ des Griechen Yorgos Lanthimos und der Regiepreis für Hou Hsiao-hsiens „The Assassin“ dagegen dürften eher kinematografischen Solitären gelten - Filmen, die im Gewand der satirischen Dystopie und vor dem Hintergrund des mittelalterlichen China eine eigene, nahezu hermetische formale Geschlossenheit erreichen.
Am Ende eines disparaten und insgesamt nur bedingt überzeugenden Cannes-Jahrgangs hat die Jury immerhin das Angebot auf ihre Weise konzeptionell sortiert. Das politisch Korrekte - „Dheepan“ und „La loi du marché“ sind eher simpel gebaute Arbeiten mit klaren Botschaften - triumphierte diesmal, aufs Ganze gesehen, das ästhetische Wagnis. So sehr sich die Franzosen an diesem Abend in den Armen liegen mögen: Für ein Festival wie Cannes ist das zu wenig.