Europa: Mit schlechtem Beispiel voran?
Wenn nicht mal Europa so richtig demokratisch ist.... Die „illiberalen Demokratien“ beschädigen die Glaubwürdigkeit der wertebasierten EU-Außenpolitik. Ein Gastbeitrag.
- Sonja Schiffers ist Co-Präsidentin des Berliner Grassroots-Thinktanks Polis180. Als Doktorandin der Freien Universität und Gastwissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik forscht sie zu Autokratisierung und Demokratisierung und den Beziehungen der (süd-)osteuropäischen Staaten untereinander sowie zur EU
Die Europäische Union will in Partnerländern Demokratie und Rechtsstaatlichkeit fördern. Gleichzeitig schwächen illiberale Entwicklungen innerhalb der EU die Glaubwürdigkeit der Union in den Außenbeziehungen. Dennoch müssen wir für eine wertebasierte Politik streiten, und zwar nach innen wie nach außen.
In den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament könnten rechtspopulistische Kräfte durchaus bis zu 25 Prozent der Stimmen gewinnen und so die liberale Demokratie in der EU künftig noch entschiedener herausfordern. Die Europawahlen stellen aber nicht nur für die europäische Innen-, sondern auch für die Außenpolitik eine große Herausforderung dar. Denn das Erstarken der EU-skeptischen und illiberalen Parteien im Parlament wird das Problem der Glaubwürdigkeit einer wertebasierten EU-Außenpolitik noch weiter erhöhen.
Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union definiert europäische Werte, auf denen sich die EU gründet: die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Die europäische Gesellschaft zeichne sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern aus.
Der V-Dem-Index zur Demokratiemessung zeigt nach unten
Artikel 3 sieht vor, dass die Union liberale Werte in den Beziehungen zur übrigen Welt fördert. Und das tut sie auch. Seit Jahrzehnten unterstützt die EU mit zahlreichen Instrumenten unter anderem Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte – nicht nur, aber insbesondere in ihrer Nachbarschaft; derzeit unter anderem bei Beitrittskandidaten wie Serbien und Nordmazedonien, bei potenziellen Kandidaten wie Bosnien-Herzegowina sowie bei assoziierten Staaten wie der Ukraine und Georgien. Über den Erfolg, die Konsequenz in der Umsetzung und weitere Aspekte lässt sich streiten – dennoch liegen die Hoffnungen der prodemokratischen Akteure dieser Staaten seit vielen Jahren außer in den USA, die weit weg sind, vor allem in Europa.
Die im EU-Vertrag definierten europäischen Werte stehen innerhalb der EU selbst allerdings zunehmend unter Beschuss. Gemäß dem sogenannten V-Dem-Index zur Vermessung von Demokratien haben Polen, Ungarn, Litauen und die Slowakei in den vergangenen Jahren ihren Status als liberale Demokratien verloren und werden nur noch als elektorale – als hinreichend freie – Demokratien eingestuft. Die polnische Justizreform hat bereits zur Einleitung von mehreren EU-Vertragsverletzungsverfahren geführt. Versuche der PiS-Regierung, Richter und Richterinnen frühzeitig in den Zwangsruhestand zu schicken sowie ein Disziplinarverfahren zu etablieren, scheinen eindeutig politisch motiviert zu sein. Gegen Polen wie auch gegen Ungarn laufen zudem Artikel-7-Verfahren, die feststellen sollen, ob klare Risiken von Verstößen gegen europäische Werte vorliegen.
Das Sterben im Mittelmeer passt auch nicht zu EU-Werten
Aber auch in Westeuropa gibt es große Herausforderungen. Die Erfolge rechtspopulistischer Regierungen und Parteien in Italien, Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und weiteren Ländern sind gebaut auf Xenophobie und tragen zur Normalisierung von Gewalt gegenüber AusländerInnen bei. Das Massensterben im Mittelmeer ist ebenfalls nur schwer mit europäischen Werten vereinbar.
Diese Entwicklungen stellen die Glaubwürdigkeit der Union für eine wertebasierte Außenpolitik in höchstem Maße infrage. Eine EU, deren Debatten zunehmend von Kräften, die sich gegen die liberale Demokratie, Menschenrechte und Toleranz aussprechen, geprägt werden, kann schwerlich mit gutem Beispiel vorangehen oder diese Werte und Prinzipien von ihren Nachbarn einfordern.
Teilweise haben die illiberalen Entwicklungen in der EU schon jetzt direkten Einfluss auf die Nachbarstaaten. Zum Beispiel hat das ansonsten nicht für seine fluchtfreundlichen Maßnahmen bekannte Ungarn dem in Nordmazedonien aus dem Amt gejagten und wegen Amtsmissbrauchs verurteilten Ministerpräsidenten Nikola Gruevski Asyl gewährt. Daraus kann man zweierlei ableiten: erstens das Messen mit zweierlei Maß, denn die EU verschließt ihre Türen für Länder unter anderem mit dem Argument mangelnder demokratischer Reformen, während in der Union selbst korrupten politischen Eliten Asyl gewährt wird (und ohnehin immer noch zu viel Korruption herrscht). Zweitens, der EU könnte es zunehmend an politischer Autorität mangeln, um sich für Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. Wäre ich EU-Skeptikerin oder Politikerin eines Nachbarstaats, die korruptionsbedingte Privilegien retten wollte, würde ich die Causa Gruevski dazu verwenden, Stimmung gegen von der EU geforderte Reformen zu machen.
Ungarn & Co. dienen anderen Nicht-Demokraten zur Rechtfertigung
Und schon jetzt beziehen sich Akteure in der europäischen Nachbarschaft auf illiberale Entwicklungen in der EU, um ihre eigene Politik zu rechtfertigen. Rechtsextreme Gruppen in Georgien hielten bereits Unterstützungskundgebungen für Orban ab, der doch lediglich ungarische Werte beschützen wolle. Und der ehemalige georgische Ministerpräsident Irakli Gharibaschwili rechtfertigte seinen Vorstoß zur Festschreibung der Ehe als Einheit von Mann und Frau in der Verfassung mit entsprechenden Bestimmungen in Kroatien und Lettland.
Dennoch sollte die Idee der „normativen Macht“ nicht zu schnell begraben werden. Wie der Politologe Jasmin Mujanovic in seinem Buch „Hunger and Fury: The Crisis of Democracy in the Balkans“ beschreibt, waren die Bestrebungen, Demokratie im Westen auszubauen und zu verankern, trotz Kolonialismus, Imperialismus und anderer Verbrechen, immer Hoffnungsanker für die Menschen, die im Rest der Welt Demokratie und Menschenrechte einfordern. Diesen Anker einzuholen, hätte klare Konsequenzen – für Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, zugleich aber auch für die der Nachbarstaaten. Es liegt eindeutig im Interesse der EU, auch weiterhin ihre in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union deklarierten Werte in der Nachbarschaft zu vertreten, zum Schutz der Menschenrechte sowie aus Eigeninteresse.
Auch wenn aktuelle Entwicklungen große Herausforderungen an die „normative Macht“ der Union stellen, sollten die Politik und diejenigen, die sie beraten, daher nicht auf die Idee kommen, vor lauter Selbstkritik die Idee einer wertebasierten Außenpolitik abzuschreiben. Stattdessen muss schärfer gegen Staaten vorgegangen werden, die Prinzipien der liberalen Demokratie infrage stellen – in der europäischen Innen- wie in der Außenpolitik.
Sonja Schiffers
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