„Systemsprenger“ auf der Berlinale: Ein Kind hinter Sicherheitsglas
Der erste deutsche Beitrag im Berlinale-Wettbewerb: Nora Fingscheidts furioses Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ über ein verhaltensauffälliges Mädchen.
Auf „Bernadette“ reagiert die neunjährige Benni nicht, und wer sie versehentlich im Gesicht berührt, erlebt einen Tobsuchtsanfall. Dann ist es besser, einfach die Tür zu schließen, bis der Sturm sich verzogen hat. So beginnt „Systemsprenger“, Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt – und der erste deutsche Beitrag im Wettbewerb. Benni (Helena Zengel) schmeißt, wie am Spieß brüllend, auf dem Spielplatz ihrer Pflegeeinrichtung mit Bobbycars um sich. „Keine Sorge, das Fenster ist aus Sicherheitsglas“, beruhigt ein Erzieher seine Kollegen, die das Spektakel ehrfurchtsvoll hinter der Scheibe beobachten. Aber die kleine Furie kriegt selbst das Sicherheitsglas irgendwie noch durch.
Der Freund ihrer Mutter greift rigoroser durch: Er sperrt das Mädchen kurzerhand in den Schrank, bis die Polizei sie wieder bei ihrer Familie abholt. Mutter Bianca (Lisa Hagmeister) kommt mit ihrer Tochter schon lange nicht mehr zurecht, sie ist mit den beiden jüngeren Söhnen schon überfordert. So wechselt Benni ständig zwischen Pflegefamilien, Wohngruppen und stationären Klinikaufenthalten, wenn sie zwischendurch nicht wieder zu ihrer Familie ausbüxt. Ein Teufelskreis. Benni fehlt eine Bezugsperson, die ihr im staatlichen Erziehungsregime emotionalen Halt gibt. Alle sind überfordert: die Menschen, das System.
Ihre Betreuerin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) zeigt eine Engelsgeduld, handelt sich aber Absagen im Dutzend ein. Das traumatisierte Mädchen ist bereits berüchtigt, keine zehn Jahre und schon als hoffnungsloser Fall abgestempelt. Noch sei sie ein Kind, warnt der Anti-Gewalt-Trainer Micha (Albrecht Schuch) Benni, der dafür verantwortlich ist, dass sie jeden Morgen zur Schule geht. „Die Maßnahmen werden krasser, je älter Du wirst.“ Micha arbeitet meist mit straffälligen Jugendlichen, jemanden wir Benni hat er noch nicht erlebt.
Die Regisseurin lässt jede Distanz vermissen
Die 35-jährige Fingscheidt kommt ursprünglich vom Dokumentarfilm. Für „Systemsprenger“, eine Bezeichnung aus der Jugendhilfe für verhaltensauffällige Kinder, die das Netz aus sozialen Einrichtungen und psychologischer Betreuung nicht mehr auffangen kann, hat sie jahrelang recherchiert. Ihr Debütfilm verzichtet dann aber auf eine dokumentarische Ästhetik. Die Regisseurin lässt jede Distanz vermissen, schlägt sich auf die Seite des Kindes, das von Erwachsenen und seinen Altersgenossen gleichermaßen gefürchtet wird.
Edward Berger hat mit „Jack“, der 2014 im Berlinale-Wettbewerb lief, etwas Ähnliches versucht, ein Film auf Augenhöhe eines Kindes sozusagen. Die Temperamente allerdings könnten nicht unterschiedlicher sein. „Systemsprenger“ kann mit dem unkontrollierbaren Mädchen kaum Schritt halten: Benni springt auf Tische, rast besinnungslos durch Hausflure und Treppenhäuser, tritt und schlägt wie ein Berserker um sich, bedroht ihre Erzieher sogar mit dem Messer. Fingscheidts Film ist eine Tour de Force, die die Erschöpfung der Mutter, der Erzieher und Ärzte nachempfindet. Das Perpetuum mobile aus Rekonvaleszenzphasen und gewalttätigen Rückfällen erzeugt in seiner Zwangsläufigkeit ein Gefühl der Abstumpfung, dem die zierliche Helena Zengel mit ihrer robusten Performance immer wieder entgegengewirkt. Zengel ist ganz offensichtlich keine Newcomerin mehr, sie hat bereits gewisse Routinen eines kommenden Kinderstars verinnerlicht, die aber zum vorlauten Selbstbewusstsein Bennis passen.
„Systemsprenger“ ist überdeutlich anzumerken, dass Fingscheidt etwas anderes versucht als ein Sozialdrama aus der deutschen Provinz. (Der Film spielt in der Lüneburger Heide, im ehemaligen Zonenrandgebiet mit seinen Fünfziger-Jahre–Kleinstädten und verklinkerten Neubaugebieten.) Sie erzählt die Geschichte schließlich aus der Perspektive Bennis, also mischt immer wieder Kinderfilm-Romantik den tristen Sozialrealismus auf, dem sich auch Bennis rosa Outfits als Farbtupfer widersetzen.
Für die Sprunghaftigkeit Bennis findet Fingscheidt visuelle Stilmittel (schnelle Schnitte und impressionistische Großeinstellungen), die „Systemsprenger“ eine etwas bemühte „Indie“-Ästhetik geben. Ganz kann sich der Film nicht zwischen Sozialstudie und Abenteuerfilm inklusive Erlebnispädadogik im Wald entscheiden. Dass Benni das System sprengt, ist eben nicht in erster Linie Ausdruck eins kindlichen Lebensgefühls. Es zeigt auch die Grenzen dieses Systems auf.
9.2., 9.30 Uhr Friedrichstadt-Palast, 12 Uhr HdBF, 20.30 Uhr (HAU1), 14.2., 17 Uhr (JVA Plötzensee), 17.2.,18.30 Uhr (Berlinale-Palast)