Edward Bergers Berlin-Drama "Jack": Allein auf der Welt
Packender Dramenstoff: Edward Berger erzählt in „Jack“ von der Odyssee eines vernachlässigten und verlassenen Jungen durch Berlin.
Jack rennt immer. Meistens jedenfalls. Gehen ist für ihn viel zu langsam, gemäßigt, erwachsen. Jacks Wege sind dringender, zwingender, wortwörtlich nötiger. So wird Jacks Atem zur Grundmelodie des nur an zwei Stellen mit sinfonischen Streicherklängen akzentuierten Dramas. Das kurze, flache, fast schon hechelnde, selten freudige, meist angespannte, oft panische Ein- und Ausatmen bohrt sich als rhythmisches Element ins Ohr.
Und für die Augen ist da, volle 85 Minuten lang, Jacks Gesicht. Seine roten Apfelbäckchen glühen. Nur dass sie nicht von Kraft und Überschwang der kindlichen Physis künden, sondern vom Fieber, mit dem der Junge auf Überforderung und Seelennot reagiert.
Jack, den Ivo Pietzcker in seiner ersten Filmrolle ernst und hingebungsvoll verkörpert, ist zehn. Sein kleiner Bruder Manuel, ein unschuldiger Rauschgoldengel, sechs. Sie leben in Berlin, einer für sie meist gleichgültigen, selten feindseligen Stadt anonymer U-Bahnhöfe, Einkaufscenter, Straßen, Tiefgaragen – und sie sind allein. Weil Mutter Sanna, lieb, jung, hübsch, aber eher verspielte Schwester als verantwortungsbewusste Erziehungsberechtigte, sie vergessen hat. Nicht aus Bosheit oder Vorsatz; sie hat bloß jemanden kennengelernt, ist ein paar Tage verschwunden, und den Wohnungsschlüssel hat sie auch mitgenommen. Wieder mal.
Die Geschichte ist konsequent auf kindlicher Augenhöhe gefilmt
Nein, der im Februar im Wettbewerb der Berlinale uraufgeführte, gemeinsam entwickelte Film des Grimme-Preisträgers Edward Berger und der Schauspielerin und Drehbuchautorin Nele Mueller-Stöfen ist kein hartes Sozialdrama, kein Beitrag zum gesellschaftspolitisch akuten Thema Kindesverwahrlosung. Obwohl die von Kameramann Jens Harant in langen Plansequenzen und konsequent auf kindlicher Augenhöhe gefilmte Geschichte eigentlich von nichts anderem erzählt.
Denn Jack ist hier der Kümmerer, schmeißt den Haushalt, bemuttert Manuel, kommt nach einem Unfall auf Anweisung des Jugendamts ins Heim, wird von einem älteren Jungen angegriffen, schlägt zurück, haut ab, driftet mit dem Bruder durch die Stadt, klaut, quält sich durch den Loyalitätskonflikt, die pflichtvergessene Mutter schützen zu wollen, übernimmt selbst ihre Verantwortung – kurz: Jack ist das Bilderbuch-Opfer einer um sich selbst kreisenden Erwachsenenwelt. Und ist es doch wieder nicht.
Jack ist ein würdevoll und komplex gezeichneter Held
„Jack“ zeigt bekannte Mechanismen, ohne das konsequent auf wenige Charaktere reduzierte Personal als Opfer und Täter zu inszenieren. Die von Luise Heyer überzeugend arglos gespielte Mutter ist im besten Sinn schamlos und liebevoll, nur fehlt es ihr an Reife und Fürsorge. Freunde und Ex-Freunde, die die Kinder auf der Suche nach der Mutter ansteuern, sind übliche Großstadttypen, die sich im Zweifel fürs Nichtkümmern entscheiden. Und Jack ist ein trotz aller Bedrängnis überaus würdevoll und komplex gezeichneter Held. Das führt dazu, dass man der einfachen Geschichte, dem von vornherein klar absehbaren und durchaus langwierigen Weg zu Jacks schließlicher Erwachsenenentscheidung mit Anteilnahme folgt.
Berger und Mueller-Stöfen liegen mit ihrer Methode richtig, jedes Fett aus dem Drehbuch zu schneiden, „bis nur noch Haut und Knochen übrig sind“. So wurde aus „Jack“ ein erklärtermaßen reduzierter, realistischer, die Realität dabei keineswegs denunzierender Film. Nichts gegen eindeutige Schuldzuweisungen auch im Kino, wie sie im Fall von Eltern-Kind-Beziehungen oder Heimalltag naheliegen. Aber die skandalöse Beiläufigkeit, mit der die plötzlich wieder aufgetauchte Mutter die in den letzten Tagen durch die Hölle gegangenen Söhne fragt: „Und, was habt ihr so gemacht?“, lädt deutlich subversiver zur Schnappatmung ein. Das ist auch der Augenblick, in dem Jack seine spektakuläre Entscheidung trifft. An ihr sind neben der Mutter ebenso die abwesenden Väter schuld. Nur sind die eben nicht im Bild.
FT Friedrichshain, Hackesche Höfe, Kant, Kulturbrauerei, Yorck