Regisseurin Nora Fingscheidt: Von null auf hundert in den Wettbewerb der Berlinale
Wut ist eine pinke Welle: Regisseurin Nora Fingscheidt über ihren Debütspielfilm „Systemsprenger“ und ihre Anfänge als Filmemacherin.
Da kommt sie ja. Den Rollkoffer in der Hand, das Haar zerzaust und ein Zentner Erleichterung im Blick. „Um drei Uhr nachts war der Film endlich fertig“, sagt Nora Fingscheidt und plumpst schachmatt, aber glücklich ins Sofa eines Reinraus-Cafés. Ganz schön knappes Timing. Sonntagmorgen am Berliner Hauptbahnhof. Nur noch vier Tage bis zur Festivaleröffnung. Und ihr Spielfilmdebüt „Systemsprenger“ feiert schon am Freitagnachmittag Premiere.
Die Regisseurin, die es sozusagen von null auf hundert in den Wettbewerb der Berlinale geschafft hat, kommt mit der S-Bahn aus Babelsberg. Da hat sie bei einer Postproduktionsfirma auf dem Studiogelände wochenlang in der Filmmischung gesessen. „Systemsprenger“ ist eine Low-Budget-Produktion. Ein Hotelzimmer war nicht drin. Also hat sie bei einem ihrer Produzenten im Gästezimmer geschlafen. Das ist völlig okay für die 35 Jahre alte Filmemacherin.
Ihr Film erzählt von Benni, einem gewalttätigen Mädchen, das mit gerade mal neun Jahren eine endlose Kette von betreuten Wohngruppen und Notunterkünften hinter sich hat. Um zu recherchieren, wie es in Einrichtungen für „betreuungsintensive“ Kinder zugeht, hat Fingscheidt selbst dort gewohnt und mitgearbeitet. Nicht einmal, sondern mehrfach. Privat lebt die Absolventin der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg seit anderthalben Jahren in Hamburg. Da warten ihr Freund und ihr Sohn. In einer guten Stunde geht der Zug.
Das "Systemsprenger"-Drehbuch gewann mehrere Preise
Und jetzt: Verschnaufen bis zur Berlinale? Nora Fingscheidt lacht. „Schön wär’s. Ich bin morgen schon wieder hier, um die DCP zu checken.“ Also die digitale Filmkopie. Zum Nachdenken, was sie zur Premiere anziehen will, ist sie auch noch nicht gekommen. Ginge es nach ihrem Film, trüge sie Pink. Das ist die Signalfarbe ihrer Heldin Benni. Sie schießt dem Mädchen wie eine Welle durch den Körper, wenn Gefühle wie Zorn, Schmerz und Sehnsucht den Verstand ausschalten. Sie habe schon immer einen Film über ein wildes Mädchen machen wollen, sagt Fingscheidt. „Die sind in Kinofilmen zu brav, zu niedlich.“ Bei der Recherche für einen Dokumentarfilm über ein Heim für obdachlose Frauen verwendete eine Sozialarbeiterin einmal den Begriff „Systemsprenger“ für ein 14-jähriges Mädchen, das dort einzog. Das Wort hat sich in Fingscheidts Kopf festgesetzt.
Bis zum fertigen Film dauerte es. Das Drehbuch sei über vier Jahre mit dramaturgischen Betreuern und in Diskussionen mit Kommilitonen gewachsen, erzählt Fingerscheidt. 67 Drehtage für die 123 Seiten hat sie gebraucht, rekordverdächtig lang. „Weil so viele Kinder beteiligt sind und viele Szenen so komplex.“ Und weil Fingscheidt mit ihrem Team, das sie an Positionen wie Kamera und Schnitt seit dem Studium begleitet, sorgfältig arbeiten will.
Überhaupt ist Nora Fingscheidt alles andere als ein Wettbewerbs-Wunderkind. Sie kann eine von Fleiß und Durchsetzungsvermögen zeugende Nachwuchskarriere vorweisen. Das „Systemsprenger“-Drehbuch gewann mehrere Preise. Ihre Kurzfilme liefen regelmäßig beim Max Ophüls Preis. 2017 hat sie dort mit ihrer Dokumentation „Ohne diese Welt“ über Altkolonier-Mennoniten in Argentinien den Dokumentarfilmpreis gewonnen – und außerdem den First Steps Award. Bei den Berlinale Talents war sie zweimal dabei. Und das ZDF hat sie kürzlich auf Vorschlag der Redaktion Kleines Fernsehspiel, die „Systemsprenger“ koproduziert hat, für ein neu aufgelegtes Regieförderprogramm ausgewählt.
Lernprozess ohne Konkurrenzdenken
So stringent hat sich Fingscheidts Weg anfangs nicht dargestellt. „Ich wollte immer Filme machen, nur wusste ich nicht, wie.“ Die Finger einer Hand reichen gerade so, um die Fächer aufzuzählen, die die Abiturientin aus Braunschweig in Berlin semesterweise anstudiert hat. Zugang zum Filmemachen findet sie erst, als sie 2003 bei der selbstorganisierten Berliner Filmschule Arche einsteigt und sich dort bald auch im Vereinsvorstand und in Jugendfilmnetzwerken engagiert. „Eigeninitiative wird in der Filmarche extrem gefördert“, sagt Nora Fingscheidt. Da habe sie gelernt, die Dinge in die Hand zu nehmen und bei null mit einem Projekt anzufangen. Ein Lernprozess ohne Konkurrenzdenken, der für sie und ihr filmisches Know-how genauso wichtig war wie das anschließende Studium in Ludwigsburg.
Dass Fingscheidt die von staatlichen Filmhochschulen ob ihres Graswurzel-Ansatzes oft belächelte Filmarche lobt, passt zu einer Regisseurin, die in „Systemsprenger“ nicht nur von kindlicher Not erzählt, sondern auch die Schönheit eines ungezähmten Menschen zeigt. Die hypnotischen blauen Augen der kleinen Helena Zengel haben auf der letztjährigen Berlinale schon Mascha Schilinskis Familiendrama „Die Tochter“ getragen. Beim Casting mussten alle Erwachsenen an ihr vorbei: „Das Mädchen hat Wumms.“
Fast unnötig zu sagen, dass aggressive Kinder wie die von Helena gespielte Benni in Nora Fingscheidt eine Fürsprecherin haben. Hinter dem schnell als gestört verurteilten Verhalten stecke immer Schmerz und Angst, ist sie überzeugt. „Man darf nicht aufhören, an sie zu glauben.“ Dass den Jugendhelfern, die sie betreuen, mehr gesellschaftliche Wertschätzung gebührt, will die Filmemacherin noch unbedingt betonen. Obwohl es Zeit ist, zum Bahnsteig zu eilen. „Ohne solche Menschen wären wir verloren.“
8.2., 15.30 Uhr (Berlinale-Palast); 9.2., 9.30 Uhr (Friedrichstadt-Palast), 12 Uhr (HdBF), 20.30 Uhr (HAU1); 14.2., 17 Uhr (JVA Plötzensee); 17.2., 18.30 Uhr (Berlinale-Palast)