Bundesverfassungsgericht zum Sampling: Durfte Moses Pelham zwei Sekunden Kraftwerk kopieren?
17 Jahre Rechtsstreit werden an diesem Dienstag enden: Dürfen Musikproduzenten ungefragt Teile aus Werken anderer verwenden? Das Bundesverfassungsgericht entscheidet über Sampling.
Nach 17 Jahren und fünf Gerichtsurteilen streiten sie immer noch – über zwei Sekunden Musik. Zwei Sekunden, die ursprünglich von der deutschen Band Kraftwerk 1977 als Teil ihres Tracks „Metall auf Metall“ komponiert und eingespielt wurden. 1997 benutzte ein Team um den Produzenten Moses Pelham diese zwei Sekunden als digitales Extrakt (Sample) von der Tonaufnahme Kraftwerks. Sie wurden in einer Dauerschleife als Rhythmus des Songs „Nur mir“ verwendet, veröffentlicht von der Deutschrapperin Sabrina Setlur. Gefragt hatten Pelham & Co. nicht. Kraftwerk erhoben Klage, unter anderem auf Schadensersatz und Unterlassung. Eine beispiellose Odyssee begann.
Nach fünf Niederlagen vor Gericht hat die Pelham-Seite ihrerseits im Namen der Kunstfreiheit Verfassungsbeschwerde erhoben – unterstützt von einigen weiteren Mitstreitern wie Setlur selbst, die bislang juristisch unbeteiligt war. An diesem Dienstag will das Bundesverfassungsgericht nun sein Urteil verkünden.
Die mündliche Verhandlung am 25. November 2015 war kontrovers verlaufen. Zahlreiche Stellungnahmen von Bundesjustizministerium bis zu Industrie- und Juristenverbänden wurden eingeholt. Und natürlich die beteiligten Künstler angehört. Auf der einen Seite Kraftwerk-Mitgründer Ralf Hütter, der erzählte, wie er und die anderen diesen Sound damals mit einfachen Tonbändern ohne digitale Technik als Klangkomposition geschaffen haben. Er beschwor das Ideal des originär nur aus sich schöpfenden Künstlers.
Auf der anderen Seite Pelham und Co., sie argumentierten, ohne Sampling seien weite Teile heutiger Populärkultur nicht mehr möglich und derart kleine Aneignungen im Übrigen ohne Nachteil für den Gesampelten. Ohne einen konkreten Schaden nachzuweisen, verwiesen Kraftwerk wiederum auf die große Bedeutung von Samplinglizenzen als Einnahmequelle.
Musik in Karlsruhe, das ist ein Novum
Was wie eine Privatfehde aus Absurdistan anmutet, ist im Grunde viel mehr: das Ringen um den passenden Interessenausgleich. Künstlerische Freiheit und lebensnahes Recht hier, Schutz von ästhetischen und wirtschaftlichen Investments dort. Alles gute Gründe, die schwierig auszubalancieren sind. Wie sehr es die Gerichte richtig machen wollen, kann man daran ablesen, dass das Bundesverfassungsgericht die nun zu entscheidende Verfassungsbeschwerde überhaupt angenommen hat. Musik in Karlsruhe. Urheberrecht! Zwischen Atomausstieg und Oppositionsrechten. Ein Novum.
Dieser Plagiatsfall ist extrem in jeder Hinsicht. Und der größte Prozess, der in Sachen Musik, Urheberrecht und Kunstfreiheit im 21. Jahrhundert in Deutschland bislang geführt worden ist. Auch andere Länder blicken gespannt nach Karlsruhe, nirgends gibt es bislang einen vergleichbaren Rechtsstreit.
Sampling steht kurz gesagt für die Möglichkeiten, beliebig große Auszüge aus Tonaufnahmen digital extrahieren, speichern, transformieren und in neuen Tonaufnahmen weiterverwenden zu können. Seit Mitte der achtziger Jahre, als Technik und Software plötzlich zu erschwinglichen Preisen zu haben waren, ist Sampling kompositorische Alltagskultur mit niedriger Zugangsschwelle.
Warum fragt man nicht einfach, wenn man samplen will? Anders als bei Coverversionen fehlt bei Sampling ein standardisierter, rechtlich sicherer, jedermann gleich behandelnden und ökonomisch ausgewogener, sprich: realistischer Weg, Sampling-Lizenzen zu erwerben. Was Coldplay gelingt, nämlich von Hütter persönlich eine Antwort zu bekommen, ist für viele unmöglich. Ganz gleich, wie gut oder kulturell relevant ihre Arbeit auf Basis des Samples ausfällt, zu oft bleibt nur die Wahl zwischen Lassen und Illegalität. Auch deshalb polarisiert dieser Rechtsstreit so.
In diesem Streit liegen alle Rechte bei Kraftwerk
Beim Samplingakt werden drei verschiedene Rechte berührt: Das Urheberrecht der Komponisten – und gegebenenfalls der Textdichter. Das Leistungsschutzrecht der ausübenden Musiker, die man auf der Tonaufnahme spielen hört. Und das Recht des Tonträgerherstellers an der Tonaufnahme, das sich seinem wirtschaftlichen und organisatorischen Investment in die Produktion verdankt. Meistens liegen diese Rechte bei verschiedenen Inhabern, von Anfang an oder weil sie im Zuge der Auswertung der Tonaufnahme übertragen wurden. In diesem Streit nun liegen alle Rechte bei Kraftwerk.
Der Fall und seine Entwicklung sind juristisch kompliziert. Die Sache lässt sich dennoch auf ein Kernproblem herunterbrechen, bei dem es eben genau darum geht, dass ein Samplingakt zugleich verschiedene Rechte berührt: Ist es richtig, dass hinsichtlich des Tonträgerherstellerrechts null Toleranz gilt, während es hinsichtlich der anderen beiden Rechte eine Untergrenze gibt, unterhalb derer man sich alles frei aneignen darf?
Schöpfungshöhe nennen Juristen diese Untergrenze. Sie soll musikalisches Handwerkszeug für alle frei halten. Jeder darf somit aus seinem Lieblingslied seinen Lieblingsakkord nachspielen und weiterverarbeiten. Die Frage ist nun, ob das Bundesverfassungsgericht solche Übernahmen künftig auch digital von der Tonaufnahme eben dieses Liedes erlaubt. Zumindest, bis eben jene Untergrenze erreicht ist. Microsampling nennt man das.
Null Toleranz gegen Verletzung des Tonträgerherstellers
Die ersten beiden Instanzen haben die Pelham-Seite mit dem Null-Toleranz-Argument wegen Verletzung des Tonträgerherstellerrechts von Kraftwerk verurteilt. Über die Verletzung der anderen beiden Rechte wurde deswegen bislang gar nicht entschieden. Hoch umstritten, begann der Bundesgerichtshof 2008 im dritten Urteil das Null-Toleranz-Argument aufzuweichen, traute sich aber noch nicht richtig.
Nach einer Konkretisierung in den beiden Folgeurteilen gilt nun, dass nur kurze Samples ohne Melodien Dritter frei benutzt werden dürfen, wenn man das Gesampelte zudem nicht selbst hätte nach- und einspielen können – fiktiver Maßstab ist dabei ein Durchschnittsproduzent – und der Sample im neuen Werk verblasst. Der Gewinn ist gering. Anstelle des Null-Toleranz-Arguments steht nun ein Faktisch-Nie-Maßstab. Die Pelham-Seite verlor entsprechend ab hier mit der neuen Begründung, dass sie die zwei Sekunden Kraftwerk-Musik selbst hätte nachproduzieren können.
Wären die Auswirkungen groß, wenn das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde stattgibt? Eher auf symbolischer Ebene. Denn die Untergrenze wird gerade im Bereich der Musik sehr niedrig angesetzt, wird aber nur im Einzelfall genau festgelegt. Und Melodien schützt das Urhebergesetz zudem gleich kategorisch. Einzelne Sounds, Rhythmuspartikel und Ähnliches würden frei. Microsampling eben. Für alle größeren Samples bleibt es wohl bei dem vom Bundesgerichtshof entwickelten Szenario. Faktisch heißt das, dass man beim Sampling jenseits der Untergrenze weiterhin die Zustimmung aller Rechteinhaber braucht.
Kommt die Sache nun an ihr Ende? Unwahrscheinlich. Es gibt zum einen auch auf EU-Ebene ein Urheberrecht. Es gäbe Argumente, sich vor dem Europäischen Gerichtshof hierauf zu berufen. Es passt zur Skurrilität dieses Falls, dass es aber auch wieder zurück auf Start gehen könnte. Denn die Frage, ob die zwei Sekunden nun die Untergrenze für diesen konkreten Einzelfall überspringen, ist bislang ja gar nicht entschieden.
Der Autor ist Musikwissenschaftler und Jurist. Er lehrt an der FU Berlin und der TU Dortmund. Gerade erschienen: „Mashup in der Musik. Fremdreferenzielles Komponieren, Sound Sampling und Urheberrecht“, transcript Verlag, Bielefeld 2016.
Frédéric Döhl