Ja, Paniks Album "Libertatia": Du lieblicher Zorn
Insel-Romantik in der Badewanne: Die Berliner Band Ja, Panik und ihr beglückendes neues Album "Libertatia". Ein Treffen.
Nach ein paarmal hören ist es kaum vorstellbar, dass dieses Album – ach Quatsch: überhaupt ein Album in diesen Tagen – anders beginnen könnte als mit den zwei Zeilen: „Ich wünsch mich dahin zurück, wo’s nach vorne geht / Ich hab auf Back to the future die Uhr gedreht“. So viel Aufbruchstimmung und Verheißung und auch Melancholie in so wenigen Wörtern, so lieblich gesungen dazu.
Wer Ja, Panik vor zwei Jahren im mittlerweile abgebrannten Festsaal Kreuzberg erlebt hat, sah auf der Bühne fünf junge Männer, mit denen es fraglos nach vorn ging. Deren Auftritt so wuchtig daherkam und gegen Ende in zorniges Gitarrengewitter ausuferte, dass es rückblickend nur logisch erscheint: Vielleicht konnte die Konzerthalle gar nicht anders, als später in Schutt und Asche zu zerfallen.
Vor kurzem ist im Internet nun ein Video aufgetaucht, das die Band von einer ganz anderen Seite zeigt. Zwei Mitglieder planschen in der Badewanne, Sänger Andreas Spechtl hockt nackt nebendran, bedeckt nur mit rotem Halstuch und einem Haufen Badeschaum im Schritt. Da radaut gar nichts mehr, es klingt zuckersüß. Der Film ist ein Vorbote von „Libertatia“, des fünften Studioalbums, und trotz aller verstörender Wannenästhetik drängt sich vor allem eine Frage auf: Warum sind Ja, Panik nur noch ein Trio?
Mittwochmittag in Neukölln, die drei verbliebenen Bandmitglieder sitzen um einen massiven Holztisch herum und wirken äußerst zufrieden. Ein Jahr lang haben sie an „Libertatia“ getüftelt, die meiste Zeit davon in ihrer Wahlheimat Berlin am Computer oder im Proberaum. Der Pianist ist nach Irland gegangen, um Medieninformatik zu studieren, der Gitarrist zog zurück nach Wien, weil er sich in Berlin nicht recht einleben konnte. „Damit war klar, dass wir dieses Mal komplett anders vorgehen mussten“, sagt Spechtl. Nämlich: viel mit Overdubs arbeiten, Sounds aufeinander aufbauen, arrangieren.
Das Ergebnis klingt weit melodiöser, ausgefeilter, ja beschwingter als alles Bisherige. Die Punkanleihen wurden durch Soul ersetzt, bisschen Funk ist auch dabei. Frage in die Runde:
„Ist Libertatia euer Tanzalbum?“
Nun, da sei vermutlich noch Luft nach oben, sagt Sebastian Janata, der Schlagzeuger. „Aber wenn ich zu einer unserer Platten tanzen wollte, dann ganz sicher zu dieser hier.“
Es liegt auch an der Produzentenwahl. Die Vorgänger hatten sie zusammen mit Moses Schneider im Neuköllner Chez-Cherié-Studio aufgenommen – dieser Mischung aus Wohnzimmer und Proberaum, in der jede Studioproduktion wie ein Livemitschnitt klingt. Diesmal haben sie sich für die Electric Avenue Studios von Tobias Levin entschieden – dem Hamburger Obertüftler, der Tocotronic einst das weiße Album ermöglicht hat.
Sänger Andreas Spechtl wollte etwas Hymnisches erschaffen
Der gefällige, bis ins Detail durchproduzierte Klang und auch der zuckersüße Gesang können einen leicht auf falsche Fährten führen. Zum Beispiel zu der Annahme, die Österreicher hätten ihre Wut verloren. Ja, Panik kommen bekanntlich aus der Anarcho-Ecke, beim rumpeligeren Vorgänger, dem allseits gefeierten DMD KIU LIDT („Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit“), war das noch allgegenwärtig, und auch auf „Libertatia“ findet sich genug Antihaltung, bloß eben äußerst charmant und reizend verpackt. Ein Song trägt den Titel „ACAB“, das ist der universelle Code für die Staatsgewaltschmähung „All cops are bastards“, hier wird er allerdings mit „All cats are beautiful“ übersetzt. An anderer Stelle zitieren sie Rio Reiser: „Auf dass man eines nicht vergisst – dieses Land hier ist es nicht“, wiederum extrem liebevoll dahingeschmachtet. Militanz in Zuckerwatte, das ist niemandem mehr dermaßen geglückt, seit Dirk von Lowtzow vor sieben Jahren sein zärtliches „Fuck it all“ gesäuselt hat. Andreas Spechtl sagt, das Ziel sei diesmal gewesen, etwas Hymnisches zu erschaffen: „Ich wollte meine schweren, düsteren Themen behalten, ohne wie früher Endzeitstimmung zu verbreiten.“ Er habe die Arme ausbreiten und neuen Menschen ein Angebot machen, ihnen Zugang zum Bandkosmos verschaffen wollen. Charmeoffensive statt Holzhammer, obwohl die Zumutungen, gegen die es anzusingen gelte, natürlich nicht weniger geworden seien. Im Grunde, sagt er, stehe die Platte damit in der Tradition des Gospels. Dazu passt dann auch das Video in der Badewanne. Gedreht in Spechtls Wohnung, einfach die Kamera aufs Stativ gesetzt und auf Aufnahme gedrückt. Beim ersten Take mussten sie lachen, den zweiten haben sie durchgezogen. Der Vater des Sängers hat später angerufen und verwundert nachgefragt, wie sein Sohn denn den Badeschaum so gut auf dem nackten Körper fixieren konnte. „Libertatia“ ist übrigens kein Fantasiebegriff, sondern angeblich der Name eines real existierenden Orts im Indischen Ozean, nordwestlich von Madagaskar. Im 17. Jahrhundert soll sich dort ein Haufen Piraten sein eigenes Paradies geschaffen haben, so steht es jedenfalls in Charles Johnsons Freibeuter-Lexikon „A General History of the Robberies and Murders of the most notorious Pyrates“, 1724 veröffentlicht, Wahrheitsgehalt ungewiss. Die Piraten sollen dort Sklaverei abgeschafft, Gleichberechtigung der Frauen und Basisdemokratie eingeführt haben. Dieses „Libertatia“ als anarchistische Utopie zu bejauchzen, ist natürlich ein wenig albern, denn möchte man seine herrschaftslose Gesellschaft ausgerechnet mit einer Mörderbande aufbauen, die im Zweifel wohl doch auf die Diktatur des Krummdolchs setzt? „Können Piraten gute Anarchisten sein?“
Na ja, sagt Andreas Spechtl, ob es dieses Libertatia wirklich gegeben hat und was da genau vorgefallen sei, möchte er nicht bewerten. „Wir machen unser eigenes Libertatia“, sagt er.
Geblieben ist die Vermischung von Deutsch und Englisch, teilweise mit mehrfachen Wechseln innerhalb einer einzigen Songzeile: „Space is the place, der die Flüchtigen liebt“ oder auch „Vergiss die troubles und den blues, forget your well worn worried shoes“. Bei Falco klang das manchmal peinlich, bei Ja, Panik dagegen immerzu natürlich.
Libertatia ist in sich stimmig, wächst mit jedem Hördurchlauf, sprüht manchmal vor Freude und Lebenslust. Vielleicht ist es das Album, das Jochen Distelmeyer gern zum Ende von Blumfeld gemacht hätte.
„DMD KIU LIDT“ bleibt trotzdem präsent. Der österreichische Filmemacher Georg Tiller hat sich vom Titel zu einem Anti-Musikfilm inspirieren lassen. Das Werk läuft auf der kommenden Berlinale, es zeigt die Band beim Rauchen, Packen und Tun, nur niemals beim Singen. Hach, Verweigerung kann schon diebischen Spaß machen.
„Libertatia“ erscheint am 31.1. bei Staatsakt/Rough Trade. Am 13.2. spielt die Band im Lido.
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