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Jochen Distelmeyer
© Votos/Owsnitzki

Konzertkritik: Jochen Distelmeyer: Wir und meine Welt

Litaneien der Liebe: Jochen Distelmeyer trat im Berliner Postbahnhof auf.

Kurz vor Schluss noch ein großer Bob-Dylan-Moment. Sein durchgeschwitztes Hemd hat der Sänger bis zu den Brustwarzen aufgeknöpft, aus der Zigarette, die am Gitarrenhals klemmt, kräuseln Rauchsäulen empor. Murmelnd intoniert er ein Gutenachtlied zu sanft wiegenden Akkorden: „Wiebke hatte gestern Geburtstag / Paul und Henry kabbeln im Hof / Annika fragt Liz, ob sie Durst hat / Und Otto findet Connie doof.“ Ein Spielplatzidyll, bei dem die ganze Welt zu einer einzigen Patchworkfamilie wird.

Im Herstellen eines Wir-Gefühls war Jochen Distelmeyer schon immer ein Meister. Auf dem Cover des Blumfeld-Albums „L’etat et moi“ (1994) ließ er die Köpfe von Freunden und Kollegen in goldene Elvis-Anzüge montieren, auf „Jenseits von Jedem“ (2003) zeigte er sich mit Anhang beim manethaften Frühstück im Freien. Den Glauben an die Kraft des Kollektivs hat der Hamburger Entertainer auch nicht verloren, nachdem er seine Band Blumfeld aufgelöst hat, die er im Lauf von 17 Jahren und sechs Alben zur wohl einflussreichsten deutschsprachigen Popmusikinstanz formte.

Wenn Distelmeyer nun in „Murmel“, dem letzten Song seines ersten Soloalbums „Heavy“ und der vorletzten Zugabe eines großartigen Konzerts im nicht ganz ausverkauften Berliner Postbahnhof, Namen aneinanderreiht und die Utopie eines friedvollen Miteinanders beschwört – „Ich sitz’ hier und bin froh“ –, wirkt das wie die Fortsetzung der knapp fünfzehnminütigen Blumfeld-Litanei „Jenseits von Jedem“. Nur dass es damals mythologische und historische Figuren von Lancelot bis Napoleon waren, die er aufrief. Die Blaupause dazu – eine Mischung aus Namedropping und Abzählreim in der Endlosschleife – stammt von Dylans Klassiker „Desolation Row“. Distelmeyers Lieder stecken voller Verweise, sie haben den Hang zur Referenzhölle. Live rocken sie trotzdem.

Mit seinem Auftritt löst der Sänger das Versprechen ein, das er mit seinem Album nicht gehalten hatte. „Heavy“ enttäuschte, weil es, anstatt einen Neuanfang zu markieren, so nahtlos an die letzten Blumfeld-Veröffentlichungen anknüpfte, dass einige Titel wie Selbstplagiate wirkten. Doch auf der Bühne spielen Distelmeyer und seine exzellente vierköpfige Begleitung – nur Bassist Lars Precht hat er von Blumfeld übernommen – selbst die blutleersten Nummern so kraftvoll und entschlossen, dass sie plötzlich tatsächlich heavy klingen. Zur Hälfte besteht die Setlist ohnehin aus Blumfeld-Stücken, vom kantigen Postrockklopper „2 oder 3 Dinge, die ich von dir weiß“ über den Mitsinghit „Status: Quo Vadis“ bis hin zur schlageresken Naturhymne „Schmetterlings Gang“ vom letzten, wegen seiner belanglosen Texte umstrittenen Blumfeld-Album „Verbotene Früchte“.

Distelmeyers politischer Verbalradikalismus wirkt längst posenhaft. Im Auftaktstück „Wohin mit dem Hass?“ kokettiert er mit Molotowcocktailgefühlen für „die Reichen und Mächtigen“ und predigt den Frieden. Zum Höhepunkt des Abends wird ein Triptychon aus drei aufeinanderfolgenden Liebessongs. „Lass uns Liebe sein“ feiert das Sichverlieben, „Ich will mehr“ beschreibt die Wonnen der Lust, die hinreißende Ballade „Nur mit dir“ handelt vom Schmerz der Trennung.

Wen Zeilen wie „Ich schau mir Fotos an und leid’ wie ein Tier“ nicht rühren, der hat kein Herz. „Wir sind Jochen Distelmeyer“, rief der Sänger anfangs und meinte damit seine Band. Am Ende, nach fast zwei Stunden, sind alle ein bisschen Distelmeyer. Bei der Zugabe „Dancing Barefoot“, einem Patti-Smith-Cover, singt der ganze Saal den Refrain mit: „Oh God I Felt For You“. Eine Liebesbekundung.

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