Brecht-Tage im Literaturforum: Drei Rubel für Bertolt
Fokus Russland: Die diesjährigen Brecht-Tage des Literaturforums im Brecht-Haus beginnen mit „Flüchtlingsgesprächen“ und dem Fall Serebrennikow.
Rund 40 Leute folgen dem Mann mit der gelben Fahne durch die Passagen des Ostbahnhofs. Viel ist nicht mehr los an diesem Montagabend, doch die merkwürdige Prozession, deren Teilnehmer nur durch Kopfhörer identifizierbar sind, erregt Aufsehen. Gehören die beiden fremdländisch aussehenden Männer, die die Gruppe queren, zu den Mitspielern? Brechts „Flüchtlingsgespräche“, ursprünglich angesiedelt im Bahnhofscafé von Helsinki, haben an Aktualität nichts verloren. Die Inszenierung des Festivals of Arts „The Access Point“, 2016 in Sankt Petersburg uraufgeführt, wirkt auch am Berliner Ostbahnhof unheimlich, denn noch immer ist „der Pass der edelste Teil von einem Menschen“, denn „er kommt nicht auf so einfache Weise zustand“.
Das interaktive Theaterevent ist Teil der diesjährigen Brecht-Tage des Berliner Literaturforums. Ging es vor zwei Jahren um das schwierige Verhältnis zwischen dem Dichter und der Sowjetunion, soll der Blick dieses Jahr, so der Programmverantwortliche Thomas Martin, auf die aktuelle Brecht-Rezeption in Russland und die dortige Lage der Kunst gelenkt werden.
Den allzu ausufernden Auftakt machten am Sonntagabend die Übersetzerin Olga Fedianina und der Regisseur Sergio Morabito, die unter dem Motto „Kunst vor Gericht“ den Fall des seit anderthalb Jahren unter Hausarrest stehenden russischen Regisseurs Kirill Serebrennikow aufrollten. Dem insbesondere durch seine Operninszenierungen auch im deutschsprachigen Raum bekannten Künstler wird vorgeworfen, zwischen 2011 und 2014 rund 1,8 Millionen Euro staatliche Subventionen veruntreut zu haben. Die Anklage ist angesichts der Produktionen, die der Leiter des Moskauer Gogol-Centers mit seiner Produktionstruppe Siebtes Studio auf die Beine gestellt hat, einigermaßen absurd, reiht sich aber ein in die Vielzahl der Angriffe, denen die zeitgenössische russische Künstlerszene nach der kurzen Tauwetterphase unter Staatspräsident Medwedew inzwischen ausgesetzt ist.
Von Patrioten verekelt
Das künstlerische Multitalent Serebrennikow ist ein besonders prominentes Beispiel, weil es ihm gelungen ist, den verkrusteten russischen Bühnenbetrieb aufzubrechen und das Theater, wie Fedianina erklärt, „für alle wieder begehbar zu machen“. An einer Vielzahl von Beispielen führt sie mit Morabito die Bildgewalt und den Spielfuror des außergewöhnlichen Theater- und Filmregisseurs vor. In „Plasticin“ etwa, der tragischen Geschichte über einen Kleinstadtjungen, der von Gleichaltrigen in den Tod getrieben wird, ziehen und halten sich die Figuren an Gummibändern auf Nähe und Distanz. In der Moskauer Inszenierung der „Dreigroschenoper“ finden sich die Zuschauer plötzlich in der Spielhandlung wieder, in der Stuttgarter „Salome“ verdoppelt Serebrennikow das Personal und weist ihm „epische“ Funktionen zu.
Gerade die Verbindung von Schauspiel, Tanz, bildender Kunst und Musik sowie der Festivalcharakter der Inszenierungen sind mit dem klassischen russischen Repertoirebetrieb schlecht zu vereinbaren und bieten ein Einfallstor für staatliche Kontrolleure. Dass sie Serebennikow selbst unter Hausarrest nicht an der Arbeit zu hindern vermögen, belegte der Bericht Morabitos über die „Così fan tutte“-Inszenierung am Opernhaus Zürich, die der Arrestant, obwohl fast völlig kontaktabgeschirmt und aus der Ferne, mit Erfolg realisierte. „Sie haben das Land von den Patrioten verekeln lassen, dies besitzen“, erklärt Kalle in den „Flüchtlingsgesprächen“ dem Physiker Ziffel. Das gilt noch heute. Indes wurde vor einigen Tagen bekannt, dass die Ermittlungsunterlagen von der Staatsanwaltschaft als „nicht beweisfähig“ zurückgewiesen wurden.
Die Brecht-Tage werden heute, Mittwoch, mit „Eine zwiespältige Freundschaft. Brecht und Moskau – eine neue Aktualität?“ fortgesetzt und dauern noch bis Freitag. Details unter lfbrecht.de