Serebrennikows neuer Film startet: Tauwetter unter null
In Moskau beginnt der Prozess gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow. Jetzt kommt sein Musikfilm „Leto“ in die Kinos.
Bei der Premiere von Mozarts „Cosi fan tutte“ am vergangenen Sonntag in Zürich war der Star des Abends nicht anwesend. Physisch zumindest. Der russische Regisseur Kirill Serebrennikow fehlte wie schon im Oktober 2017 bei der improvisierten Inszenierung von Engelbert Humperdincks „Hänsel und Gretel“ an der Stuttgarter Staatsoper und im Mai auf dem Filmfestival von Cannes, wo sein neuer Film „Leto“ im Wettbewerb um die Goldene Palme konkurrierte.
Am heutigen Mittwoch findet in Moskau – nach mehreren Terminverschiebungen – die erste Anhörung im Prozess gegen den Regisseur Kirill Serebrennikow statt. Seit August 2017 steht er unter Hausarrest, die Strafe wurde kürzlich bis April 2019 verlängert. Offiziell wirft die russische Justiz Serebrennikow die Unterschlagung von Fördergeldern in Höhe von zwei Millionen Euro vor, über die der Direktor des Gogol-Zentrums in seiner Funktion als Leiter des interdisziplinären, inzwischen eingestellten Künstlerprojekts „Platforma“ verfügte. Der Vorwurf wird in der Kulturszene als Vorwand gedeutet, um einen unliebsamen Künstler mundtot zu machen, schon länger eine gängige Praxis unter Wladimir Putin. Auf die Bitte von Cannes-Chef Thierry Frémaux, Serebrennikows Hausarrest zumindest für die Teilnahme am Filmfestival auszusetzen, antwortete der Präsident knapp, dass er keine Befugnisse über die Justiz habe. Trockenes Gelächter auf der Pressekonferenz.
Die Lücke, die Serebrennikow hinterlässt, müssen momentan andere füllen. Der Hausarrest hat eine weltweite Solidaritätskampagne ausgelöst, eine Petition fand über 54 000 Unterstützerinnen und Unterstützer, Premieren werden von „Free Kirill“-Aufrufen begleitet. Es steht allerdings zu befürchten, dass der Prozess gegen Serebrennikow mehr als nur eine Drohgebärde der russischen Justiz ist. Die unnachgiebige Haltung gegenüber dem zu 20 Jahren Haft verurteilten ukrainischen Filmemacher Oleg Senzow, der Anfang Oktober nach 140 Tagen seinen Hungerstreik beendete und sich noch immer in einem kritischen Gesundheitszustand befindet, gilt vielen in Russland als Präzedenzfall dafür, wie der Staat gegen seine Kritiker vorgeht.
Der Regisseur inszeniert trotz Hausarrests weiter
Gerade weil die Anschuldigungen gegen Serebrennikow und seine drei Mitarbeiter Juri Itin, Sofia Apfelbaum und Nina Maslyaeva so undurchsichtig sind – unter anderem wird ihnen vorgeworfen, Geld für eine Inszenierung von „Ein Sommernachtstraum“ veruntreut zu haben, die nie realisiert worden sein soll, obwohl das Stück nachweislich internationale Premieren feierte –, herrscht Unsicherheit in der russischen Kulturszene. Die staatlichen Reaktionen auf die Arbeit der progressiven Kräfte in der Kultur werden immer willkürlicher, sodass sich niemand mehr sicher sein kann, nicht plötzlich selbst im Fadenkreuz der Justiz zu stehen. Eine perfide Strategie.
Die Reizfigur Serebrennikow ist ein gutes Beispiel für diese Politik von Zuckerbrot und Peitsche. Lange Zeit war er Nutznießer der russischen Kulturpolitik unter dem Präsidenten Dmitri Medwedew (2008 bis 2012), einem Günstling Putins, der im Ausland ein weltoffenes Image vertrat, aber im Inneren zunehmend restriktiv gegen „Multikulturalismus und Prinzipien der Toleranz“ (aus einem Papier des Kultusministeriums) vorging und einem Klima der Angst den Weg bereitete. Vermutlich hat Serebrennikow, der offen homosexuell lebt, die Kräfte unterschätzt, die ihn zu einem der prominentesten Protagonisten in der europäischen Theaterszene beförderten. Oder er fühlte sich unangreifbar.
Schon sein letzter Film „Der die Zeichen liest“ von 2016 war ein einziger Affront: ein bösartiger Kommentar auf die Klerikalisierung der russischen Gesellschaft und den wachsenden Einfluss der orthodoxen Kirche unter Putin. Verglichen mit dem Vorgänger wirkt sein neuer Film „Leto“, der in Deutschland nun in derselben Woche startet, in der in Moskau der Prozess gegen Serebrennikow beginnt, geradezu harmlos. „Leto“ (das russische Wort für Sommer), gefilmt in einem weichen, nostalgisch anmutenden Schwarz-Weiß, ist eine Hommage an die Musikszene in Leningrad Anfang der achtziger Jahre. Der Rockstar Mike Naumenko, Kopf der damals populärsten russischen Band Zoopark, und der introvertierte Viktor Zoi, der inspiriert von David Bowie die freiheitshungrige Sowjetjugend mit dem melancholischen Sound der New Romantic bekannt machte, waren ihre prägenden Figuren. Zu einer Zeit, als an Perestroika noch nicht zu denken war.
Serebrennikow wirkt fast wohlwollend
Naumenko (gespielt von Roma Zver, einem der erfolgreichsten Musiker Russlands) und Zoi (der in Köln geborene Teo Yoo) starben viel zu jung Anfang der 90er Jahre, während sich die Sowjetunion bereits in Auflösung befand. Serebrennikow sieht sie generationsbedingt als Vorboten eines Wandels, doch „Leto“ blickt eher amüsiert als kritisch auf den Clash von Kommunismus und Rockmusik zurück. Da ist die Funktionärin, die den Sonnenbrillenträger Mike und seine Lederjackenjungs für den Dienst an der russischen Jugend gewinnen will. Oder die Aufpasser der Partei, die bei Konzerten im offiziellen Rockclub die Jugendlichen zur Ordnung rufen, wenn ein Kopf mal zu euphorisch im Rhythmus der Musik zu wippen beginnt.
Serebrennikow wirkt fast wohlwollend, als hätte er seinen ganzen Furor in dem auch formal aggressiven, stets das Publikum adressierenden Drama „Der die Zeichen liest“ rausgelassen. „Leto“ zieht sich ins Private zurück, in die Backstage- und Probenräume oder in die Wohnungen, in denen selten über Politik geredet wird. Mike und Victor haben noch kein Bewusstsein für die Gesellschaft, die Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit empfinden sie eher als Herausforderung. Sie suchen noch ihre Rolle in dieser Gesellschaft, die auf die Mode der neuen Jugendkultur, ihre Sprache, Träume und ihre Leidenschaft für die Musik des „Systemfeinds“ ablehnend reagiert.
Während einer Bahnfahrt kommt es einmal zu Handgreiflichkeiten mit den älteren Fahrgästen, und Theatermann Serebrennikow öffnet die vierte Wand für eine explosive Musicalnummer zu „Psychokiller“ von den Talking Heads. Die Meute randaliert lautstark durch die Waggons, wilde Schraffierungen zerkratzen die Bilder, eine Comicwelt öffnet sich: Für einen Augenblick erhält „Leto“ die Energieinfusion des Punk, deutet an, was damals bereits möglich gewesen wäre. Doch: Dies hat nie stattgefunden, sagt Serebrennikows skeptischer Erzähler (Alexander Kuznetsov) am Ende der Szene in die Kamera – und schließt die Tür wieder.
"Leto" blickt amüsiert auf den Clash von Politik und Rock
Die Figur des Skeptikers ist das einzige Indiz in „Leto“, dass Serebrennikow bei aller Sympathie für die Jugendlichen mit der poetischen Selbstfindung auch ein Problem hat. Der Skeptiker hängt mit Victor, Mike, dessen Frau Natascha (Irina Starshenbaum), die sich um das gemeinsame Baby kümmert und nebenbei die Band ihres Mannes managt, Leonid und den anderen herum, bleibt in der Gruppe aber ein Fremdkörper. Seine wütenden Interventionen gegen die selbstgenügsame Lethargie der Jugendlichen, die von einer Karriere als Musiker träumen, aber nicht das Potenzial ihrer Jugend erkennen, hinterlassen nur leichte, fast auratische Irritationen, als wäre er bloß als Geist anwesend. Stattdessen zerbricht Mike an der Frage, ob die Liaison zwischen Natascha und Victor dem Sex-and-Drugs-Image eines Rockstars zuträglich sei oder seine Ehe zerstören könnte.
Angesichts der politischen Brisanz des Verfahrens wirkt der sentimentale Ton von „Leto“ wie ein schiefer Anachronismus. Kirill Serebrennikow wurde kurz vor Ende der Dreharbeiten unter Hausarrest gestellt, den Schnitt überwachte er mit Hilfe seines Regieassistenten, ähnlich inszenierte er auch die Züricher „Cosi fan tutte“ aus der Ferne. Öffentlich äußern darf er sich schon lange nicht mehr. Eines seiner letzten Statements stammt noch aus der Zeit vor Beginn der „Leto“-Produktion. „Ich werde diesen Film für und über eine Generation machen, die die Freiheit als eine persönliche Entscheidung betrachtet, und zwar als die einzig mögliche.“ Möglicherweise wird „Leto“ für lange Zeit die letzte öffentliche Äußerung von Kirill Serebrennikow bleiben.
Ab Donnerstag in 8 Berliner Kinos. OmU: Delphi Lux, Filmkunst 66, Filmtheater am Friedrichshain, FSK, Kino in der Kulturbrauerei, Rollberg, Tilsiter