Neues Album von PJ Harvey: Draußen vor der Autotür
Reportage-Rock: PJ Harvey erkundet auf ihrem Album „The Hope Six Demolition Project“ kaputte Orte.
Die britische Touristin und ihr irischer Begleiter hatten ein seltsames Reiseziel. Sie wünschten die „dunkle Seite“ von Washington D. C. zu sehen. Kein Problem für den erfahrenen Zeitungsreporter Paul Schwartzman. Er nahm die beiden in seinem zerbeulten Mazda mit und steuerte ihn durch die armen Viertel im Südosten der US-Hauptstadt. Er zeigte ihnen gefährliche Straßen, kaputte Schulen und das einzige Restaurant der Gegend.
Auf der Rückbank saß schweigend und eifrig mitschreibend die Musikerin PJ Harvey. Der zweite Passagier war der Fotojournalist und Filmemacher Seamus Murphy, der 20 Monate später nach Washington zurückkam, um die Tour im Bild festzuhalten.
Dann kombinierten die Fahrgäste ihre Eindrücke zu einem Musikvideo mit dem Titel „The Community Of Hope“, das sie kürzlich ins Netz stellten – und die Amerikaner zeigten sich not amused. Politiker und die Hilfsorganisationen, auf die sich der Songtitel bezieht, protestierten, weil sie den Text des Liedes diffamierend finden.
Eine Drogenstadt voller Zombies
In der Tat enthält das muntere Rockstück einige recht drastische Zeilen über die als Ward Seven bekannte Gegend: „Okay, now this is just drug town/ Just zombies, but that’s just life“, singt Harvey in der ersten Strophe. Die zweite eröffnet mit den Zeilen: „Here’s the highway to death and destruction/ South Capitol is its name./ The school looks like a shit hole/ Does that look like a nice place?“ Drogenstadt voller Zombies, eine Schule, die wie ein Scheißloch aussieht – so etwas hört man natürlich nicht gerne über sein Viertel, zumal von einer Engländerin, die nur mal kurz durchgefahren ist und mit niemandem gesprochen hat.
„The Community Of Hope“, mit dem PJ Harveys am Freitag erscheinendes Album beginnt, spiegelt exemplarisch die Ambivalenz dieses musikalisch mitreißenden, textlich jedoch teils problematischen Werkes. Wobei der Eröffnungssong vor allem aus Zitaten des Tour-Guides Paul Schwartzman besteht. Das Video, das mit einem seiner Sätze über das titelgebende Städtebauprojekt Hope Six startet, macht das deutlicher als die Albumversion, in der nur die vierte Zeile („at least, that’s what I’m told“) darauf verweist. Was es nicht unbedingt besser macht, es bleibt eine ausbeuterische Komponente. Zumal wenn man weiß, dass der am Ende des Videos mit der Zeile „They’re gonna put a Walmart here“ zu hörende Kirchenchor nichts von dem Kontext wusste, in den er gestellt wird. Sie singen einen Schwartzman-Satz, der sich allerdings nicht bewahrheitet hat: Der Konzern kippte seine Pläne, einen Supermarkt in Ward Seven zu bauen.
Das hätte PJ Harvey natürlich in Erfahrung bringen können, aber sie ist eben keine Reporterin, sondern Künstlerin. Und als solche verfolgte sie – wie immer auf der Suche nach neuen kreativen Herausforderungen – diesmal ein Programm, das sie in dem Song „The Orange Monkey“ so zusammenfasst: „I took a plane to a foreign land/ And said, I’ll write down what I find.“ Ins Ausland fahren und beobachten also, mitschreibende Zeugin sein. Diese Reisen führten sie und Seamus Murphy zwischen 2011 und 2014 in den Kosovo, nach Afghanistan und Washington D. C. Der im vergangenen Herbst erschienene Foto- und Gedichtband „The Hollow of the Hand“ war das erste Ergebnis dieser Kooperation. Das Album, dessen Texte teils auf den Gedichten aufbauen, ist das zweite.
Zugleich setzt PJ Harvey damit einen auf dem Vorgängeralbum „Let England Shake“ begonnenen Kurs fort, der sie von ihren einstigen emotionalen Themen und selbstermächtigenden Texten entfernt und zu mehr Konkretion geführt hat. Befasste sich die Musikerin auf der meisterhaften letzten Platte, die ihr vor fünf Jahren ihren zweiten Mercury Prize einbrachte, vor allem mit England und dem Ersten Weltkrieg, wendet sie sich nun der Gegenwart und dem Ausland zu.
Männerchöre und Saxofone begleiten die Sängerin
Die elf mit ihren Langzeitvertrauten John Parish und Flood eingespielten Songs von „The Hope Six Demolition Project“ gleichen Momentaufnahmen. Teilweise sind sie sehr plastisch und eindringlich geraten. Etwa wenn PJ Harvey ein von Einschusslöchern und Graffiti übersähtes „Minstry Of Defense“ beschreibt oder im nur dreiminütigen „Near The Memorials To Vietnam And Lincoln“ eine kleine Szene neben den besagten Denkmälern skizziert. Weil dieses Stück mit der euphorisch gesungenen Titel-/Refrainzeile beginnt, entsteht der Eindruck großer Dringlichkeit, den eine zackig geschlagene Akustikgitarre und eine militärisch wirbelnde Snaredrum verstärken.
Auffällig oft wird PJ Harvey, die ihr Soundspektrum in der Vergangenheit gern durch das Erlernen neuer Instrument wie der Zither erweitert hat, dabei von Männerchören sowie Tenorsaxofonen begleitet. In „Chain Of Keys“ setzen die Sänger Harvey mal für ganze, mal für halbe Zeilen ein. Sie werden damit gleichsam zu Stellvertretern der besungenen Bewohner, die aus einem kosovarischen Dorf fliehen mussten. Ihre Hausschlüssel – 15 Stück – bewahrt eine alte Nachbarin auf. „Imagine what her eyes have seen./ We ask but she won’t let us in“, singen Harvey und der Chor, derweil auch hier eine unerbitterliche Snaredrum Kriegserinnerungen heraufbeschwört und die Saxofone zwischen bedrohlichem Dröhnen und rhythmischem Schieben wechseln.
Eine besonders anmutiger Chor ist in „River Anacostia“ zu hören. Er greift im Intro summend und im Finale singend die Melodie des Spirituals „Wade In The Water“ auf, was sich schön in dieses von hypnotischen Tom-Tom-Beats angetriebene Gebet für einen verschmutzen Fluss fügt. Trotz der Schwere der Themen klingt das Album keineswegs niederdrückend. So singt die 46-Jährige den anklagenden Text des Protestsongs „A Line In The Sand“ mit geradezu lieblicher Falsettstimme. Und die Single „The Wheel“ ist mit einem poppigen Saxofon-Motiv und Mitsing-Refrain ausgestattet. Er lautet: „I heard it was twenty-eight thousand“ – dabei geht es um 28 000 verschwundene Kinder.
Ein afghanischer Junge bettelt sie durchs Autofenster an
Natürlich macht sich PJ Harvey in solchen Momenten angreifbar. Zumal man bei „The Wheel“, dessen Video größtenteils im Kosovo spielt, nicht recht weiß, auf welche Kinder sie anspielt. Auch scheint ihre Hilflosigkeit immer wieder auf, als die Alte mit den Schlüsseln nicht reden will, oder auch im Abschlussstück „Dollar, Dollar“. Es handelt von einem Jungen, der in Kabul vor ihrer Autoscheibe bettelt. Mit diesem in Straßenlärm und Kindergeschrei mündenden Song gesteht die Musikerin das Scheitern ihrer Mission ein. Denn am Ende bleibt immer ein unüberbrückbarer Abstand zwischen denen, die in ein Flugzeug steigen können, um sich das Elend der Welt anzusehen, und denjenigen, die darin zurückbleiben. Gleichzeitig ist dieses Album aber auch ein Statement gegen das Weggucken und Wegducken. Eingängige Melodien können da nicht schaden.
„The Hope Six Demolition Project“ erscheint am 15.4. bei Island/Universal. Konzert: 20.6., Zitadelle Spandau
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