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Fremder Vogel. Die englische Musikerin PJ Harvey wirft einen kritischen Blick auf ihr Heimatland.
©  Universal

"Let England Shake" von PJ Harvey: Thymianduft über dem Schlachtfeld

Sie besingt die Gräuel des Krieges aus der Sicht der Soldaten. Politischer Pop für Fortgeschrittene: PJ Harveys Meisterwerk "Let England Shake".

Ein schwarzer Schwan steht im Fernsehstudio. Etwas verloren wirkt er da so allein zwischen den Videowänden und dem Mikrofon. Doch dann singt er sein Lied – so lieblich und düster zugleich, dass es einem die Kehle zuschnürt.

PJ Harveys Auftritt in der BBC-Morgensendung von Andrew Marr im April 2010 ist eine Sternstunde der öffentlich-rechtlichen TV-Geschichte. Denn während sie, begleitet von einer Zither, singt „The west’s asleep. Let England shake, weighted down with silent dead. I fear our blood won’t rise again. England’s dancing days are done“, sitzt der damalige Premierminister Gordon Brown neben Moderator Marr und muss sich den Song anhören. Brown ist mitten im Wahlkampf, hat gerade noch mal den britischen Einsatz in Afghanistan verteidigt, und jetzt singt ihm diese Frau im Federkostüm etwas von den stillen Toten vor und davon, dass die lustigen Tage für England vorbei seien. Die Kamera zeigt nur seinen Hinterkopf, aber man kann sich ausmalen, was in ihm vorgeht.

„Let England Shake“ ist das Titelstück von PJ Harveys grandiosem neuen Album. Es ist ihr zehntes und eines ihrer besten. Ein Schlachtengemälde in Schwarz-Weiß und Blutrot. Ein Trauermarsch in zwölf strahlend schönen Stücken, die alle um die Themen Krieg, Tod und England kreisen. Historisch weit ausgreifend, geht es der 41-jährigen Multiinstrumentalistin dabei nicht um einen Kommentar zu aktuellen Kriegen, sondern um eine zeitlose Beschreibung von Leid und Trauer.

So bezieht sich der Song „On Battleship Hill“ auf die verlustreiche Schlacht um Gallipoli, die England und seine Verbündeten im Ersten Weltkrieg gegen die Türkei und Deutschland führten. Der Text und vor allem die Musik sind aber auch ohne diese Hintergrundinformation vielsagend genug. Nach einem sanften Up- Tempo-Intro bleibt PJ Harvey mit Zither und Gesang allein im Raum. Im Falsett singt sie über den Duft des Thymians, der vom Wind herüberweht. Dann kommen Gitarre, Schlagzeug, eine an Nick Cave erinnernde Pianofigur und zwei Männerstimmen dazu. Sie erzählen davon, dass auch Jahrzehnte nach Kriegsende der Hügel noch von Schützengräben und Hass zerfurcht ist. Als Erkenntnis dieses zu Tränen rührenden Stückes bleibt: Es wächst Gras über ein Schlachtfeld, doch der grausame Kreislauf des Tötens bleibt bestehen. „Cruel nature has won again“, singt der Chor immer wieder, und PJ Harvey rollt unheilsschwanger das „R“.

Die von Molltonarten dominierten Stücke sind einerseits tief verwurzelt im englischen Folk, andererseits durchzogen von der PJ Harvey-typischen drängenden Intensität, für die sie im Verlauf von bald zwei Jahrzehnten immer neue Ausdrucksformen gefunden hat. Angetrieben von dem Wunsch, sich nie zu wiederholen, reicht ihre stilistische Bandbreite von Riot-Grrrl-Rock („Rid of Me“) über fragilen Low-Fi-Pop („Is this Desire“) bis hin zu radiotauglichem Rock („Stories from the City, Stories from the Sea“).

Der Sound ihres letztes Soloalbums „White Chalk“ (2007) war von Falsettgesang, Piano und die Zither geprägt – eine verstörend jenseitige Angelegenheit. Mehr denn je im Hier und Jetzt angesiedelt ist dagegen „Let England Shake“. Zum ersten Mal richtet Polly Jean Harvey den Blick nach außen statt nach innen. Gesellschaftsportät satt Seelenstrip.

Die größere Weltzugewandtheit spiegelt sich auch darin, dass sie eine Reihe von Sampels benutzt – eine Novität im Harvey-Universum. Im Titelsong etwa spielt eine Xylophon das Thema von „Istanbul (Not Constantinople)“ der Four Lads nach. In „Written on the Forehead“ hat sie einen Schnipsel des Reggae-Klassikers „Blood & Fire“ eingebaut, das perfekt zur im Irak angesiedelten apokalyptischen Szenerie des Textes passt.

Häufig kontrastiert Harvey die blutdurchtränkten Texte, die oft aus Soldatenperspektive geschrieben sind, mit erstaunlich lieblichen Melodien. „The Words that Maketh Murder“ beispielsweise kommt wie ein schunkeliger Folksong zum Mitsingen daher. Eine kleine Bläsersektion gibt der Sache Volumen. Man möchte glatt anfangen zu tanzen wie die Senioren im Video zu dem Stück – wären da nicht die zerfetzten Soldaten, deren Gliedmaßen in den Bäumen hängen, wäre da nicht der Unteroffizier mit den zerrütteten Nerven und die in der Hitze herumschwirrenden Fliegen.

Schließlich mündet das Lied in ein mehrmals wiederholtes Zitat aus Eddie Cochrans „Summertime Blues“: „What if I take my problem to the United Nations?“ Für Harveys Verhältnisse ein ungewohnt sarkastischer Ton. Man könnte Zynismus hinter dieser Zeile vermuten, wahrscheinlicher ist jedoch britischer Humor.

Britischer Patriotismus ist ein weiterer wichtiger Faktor auf der Platte, die PJ Harvey zusammen mit ihren alten Mitstreitern Mick Harvey, John Parish und Produzent Flood in einer Kirche ihrer Heimat Dorset aufgenommen hat. „Hass, Liebe, Enttäuschung, Dankbarkeit. All diese Dinge empfinde ich gegenüber England“, hat sie kürzlich in einem Interview gesagt – und all diese Emotionen finden sich auch auf „Let England Shake“.

Die Liebe besingt sie in dem stetig anschwellenden Klagestück „England“: „I live and die through England“ heißt es da, und die Schlusszeile „England is all to which I cling“. Weil der Song von historischen arabischen Klängen („Kassem Miro“ von Said El Kurdi) unterlegt ist, fehlt ihm jedoch jegliche nationalistische Färbung. Es geht hier um die Verbundenheit mit einer Landschaft, einer Sprache, nicht um eine Fahne.

Den Hass auf ihr Land packt PJ Harvey in den Song „The Glorious Land“, der angetrieben von einer halligen E-Gitarre und einer Jagdfanfare in einer Call-and- Response-Sequenz fragt: „And what is the glorious fruit of our land? Its fruit is deformed children. What is the glorious fruit of our land? Its fruit is orphaned children.“ Gordon Browns Nachfolger David Cameron ist sicherlich not amused.

„Let England Shake“ erscheint am Freitag bei Island/Universal. Konzerte: Admiralspalast Berlin, 21./22.2., 20 Uhr

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