Theatertreffen Berlin: Hans-Werner Kroesinger: Dramen aus den Archiven
Hort des Hehren, Wahren, Schönen? In „Stolpersteine Staatstheater“ entdeckt Hans-Werner Kroesinger eine Bühne im Nazi-Rausch.
Das Archiv ist weder hip noch sexy. Man macht sich schmutzig, braucht Beharrlichkeit und Geduld, muss sich durch Akten wühlen und wird dafür höchstens mit einem Gewinn an Wissen belohnt. Junge Theatermacher, die sichtbar werden wollen, trifft man dort nicht gerade in Massen. Das Archiv ist aber der Ort, an dem ein Großteil der Arbeit von Hans-Werner Kroesinger stattfindet. Hier vergräbt er sich in Materialberge über die Konflikte der Vergangenheit, die in der Gegenwart offene Wunden hinterlassen haben. Oder durchleuchtet die Krisen von heute, die uns in Zukunft noch Kopfzerbrechen bereiten werden.
Im Falle der Inszenierung „Stolpersteine Staatstheater“, mit der Kroesinger jetzt nach über zwei Karriere-Jahrzehnten erstmals zum Theatertreffen eingeladen ist, recherchierte er in Personalakten des Staatstheaters Karlsruhe, „die seit 30, 40 Jahren niemand mehr in der Hand hatte“. Im Stadtarchiv ist lückenlos erfasst, mit welcher Rasanz sich die Bühne der nationalsozialistischen Ideologie an den Hals warf. Und was aus den ehemaligen Publikumslieblingen geworden ist, an die sich kaum noch jemand erinnert. „Karlsruhe hat im Juli 1933 als erstes Haus an die Reichstheaterkammer gemeldet, dass es ‚judenfrei’ sei“, erzählt Kroesinger.
Vor dem Eingang zur Kassenhalle des Karlsruher Theaters liegen seit November 2014 zwei Stolpersteine. Einer der Schauspielerin und Soubrette Lilly Jank gewidmet, einer dem Schauspieler Paul Gemmecke. Die Stolpersteine sind ein Projekt des Kölner Künstlers Gunter Demnig, sie werden in den Boden eingelassen, versehen mit einer Messingplatte, die an Verfolgte der Nazidiktatur erinnert. Man muss sie regelmäßig polieren, sonst verblassen sie, das gefällt Kroesinger: „Die Erinnerung bleibt nur wach, wenn man sich mit den Steinen beschäftigt.“ Was zu einem Moment des Innehaltens führe.
"Der Jude wird bald ausgesungen haben"
Die Theater sind ja seit je die Orte, an denen Historie kritisch beleuchtet wird. Bloß die eigene nicht. Kein Wunder. Man stößt dabei nicht auf heroische Erzählungen vom Widerstand. Sondern auf Fälle wie den des jüdischen Schauspielers Hermann Brand, der in einer Operette ein Couplet zu singen hatte. Auf einmal begann das Orchester, falsch zu spielen, was den Künstler verständlicherweise aus der Spur brachte. Als er nach der Vorstellung die Musiker zur Rede stellen wollte, hielten sie ihm geschlossen das Parteibuch entgegen und verkündeten ihm: „Der Jude wird bald ausgesungen haben.“
Der Schauspieler Paul Gemmecke wiederum wurde entlassen, weil er mit einer Jüdin verheiratet war. Worauf sein Vermieter die NSDAP-Kreisleitung aufmerksam machte, nachdem Gemmecke ihm das Hissen der Hakenkreuzflagge auf seinem Balkon verweigert hatte. Auch die jüdische Souffleuse Emma Grandeit verlor ihre Anstellung. Zwar überlebte sie das KZ. Aber als sie in den 60er Jahren einen Antrag auf Rente stellte, beschied ihr das Theater, leider seien keine Akten von ihr auffindbar.
Kurz vor der Rente zum Theatertreffen eingeladen
In Kroesingers Inszenierung sitzt das Publikum zu Beginn an einem Tisch in halber Hakenkreuzform, zusammen mit den Schauspielern. Daneben stehen zwei Wagen voller Akten. Die Inszenierung wechselt zwischen Fallstudie und Spielsituation, sie macht das Material, wie stets in Kroesingers Arbeiten, im buchstäblichen Sinne greifbar. Und sie schlägt über die Stadtgeschichte den Bogen ins Heute. „Stolpersteine Staatstheater“ mündet in eine Kagida-Rede. Dieser Karlsruher Ableger von Pegida nutzt nicht nur die gleichen Demonstrationsrouten wie damals die Nazis. Er lasse auch, so Kroesinger, rhetorische Verwandtschaft erkennen. Wo andere Theatermacher Aktualitäts-Klimmzüge veranstalten, werden in seiner Arbeit die verlängerten Zeitachsen durch genaues Hinschauen von selbst sichtbar.
In über zwei Jahrzehnten als Dokumentartheatermacher hat sich Kroesinger unter anderem mit den Völkermorden in Ruanda und Armenien befasst, mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem, mit dem Kosovo, Somalia und Südafrika, mit privaten Kriegsdienstleistern und der europäischen Grenzschutzagentur Frontex. Kroesinger hat mit seiner ernsthaften, nie auf Aktualität schielenden Arbeit einer Generation von Dokumentar-Künstlern den Weg gebahnt, die sehr viel steilere Karrieren hingelegt haben als er selbst. Umso mehr freut es, dass er nun endlich zum Theatertreffen eingeladen ist – „kurz vor der Rente“, wie der 1962 geborene Regisseur scherzt. Irgendwie passt es, dass er als einer der Letzten davon erfuhr. Während auf der Pressekonferenz die Nominierungen verkündet wurden, saß Kroesinger zur Berlinalezeit im Kino Arsenal. Um sich einen israelischen und einen libanesischen Dokumentarfilm anzuschauen.
Haus der Berliner Festspiele, Seitenbühne, 16. bis 18.5.
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