Igor Levit zur Klassik in der Krise: „Diese Hauskonzerte waren die Rettung für mich“
Pianist Igor Levit spielte während der Pandemie Twitterkonzerte. Ein Gespräch über die Verantwortung für die Stars von morgen und die Musikwelt nach der Krise.
Herr Levit, Sie haben seit Mitte März täglich ein Hauskonzert über Twitter gestreamt, 52 in Folge, erst mal bis zum 3. Mai. Was hat Sie zu dem Marathon bewegt?
Die Idee kam mir nach dem Einkaufen, auf der Straße, in der ich wohne. Mir wurde bewusst, dass es wohl sehr lange so bleiben wird: das Nicht-mehr-Vorhandensein von Räumen, die man mit Menschen teilt, von Umarmungen, Berührungen, Gesprächen, die ich nicht nur über den Bildschirm führen kann. Ich hatte und habe das dringende Bedürfnis, weiter teilen zu können. Also dachte ich, ich könnte Konzerte streamen, vollwertige Programme, und habe die Idee auch gleich getwittert.
Dem „New Yorker“ erzählten Sie, dass Sie im Elektronikmarkt dann Equipment für 24 Euro kauften.
Ich schrieb einer Freundin in Kalifornien, „I know shit about streaming“, so fing das an. Diese Hauskonzerte waren die Rettung für mich und haben mich vor der ersten Panik bewahrt.
Es hat ganz schön gescheppert. Die billige Technik, das war egal?
Die Akustik war mir seit jeher egal, jetzt ist sie mir noch egaler. Musik ist da, Geräusch ist da, Töne, Gesten, Miteinander, darum geht es. Wie klingt das Stück aus Reihe 19, die Frage hat mich schon nicht interessiert, als wir noch in Sälen spielten.
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Zigtausende aus der ganzen Welt hörten zu. Wie haben Sie diese „Igor Family“ wahrgenommen?
Nicht während des Spiels, aber danach. Beim ersten Mal waren es über 340 000, nach einigen Wochen pendelten sich die Views auf 25.000 bis 30.000 ein. Ich habe Beethoven und Bach gespielt, aber auch Morton Feldman, Ronald Stevens Monsterwerk „Passacaglia on DSCH“ oder Billy Joel. Mein Traum von einer Musik ohne Hierarchie ist wahr geworden. Die ungeheure Offenheit dafür hat mich sehr bewegt. Wenn du Menschen ernst nimmst, vertrauen sie dir und hören dir zu. Mit die emotionalsten Reaktionen kamen ausgerechnet auf Morton Feldmans „Palais de Mari“!
Im Klassikbetrieb heißt es, so etwas mag nur eine Minderheit. Neue Musik müsse man mit Bach, Mozart, Beethoven mischen.
Ich kenne kommerzielle Konzertveranstalter, die so etwas eben nicht leben und voller Neugier sowohl ungewöhnliche Programme möglich machen als auch jungen, noch unbekannten Musikerinnen und Musikern eine Bühne geben. Und dann gibt es Veranstalter, die ein Denken vertreten, das ich für verantwortungslos halte, um es freundlich zu sagen.
Meinen Sie jemanden wie Jutta Adler, die im Tagesspiegel sagte, Konzertveranstalter müssten jetzt sehr kommerziell denken, wenn sie Corona überleben wollen?
Ich halte diese Ansicht für problematisch, weil sie ihre eigene wirtschaftliche Kalkulation, die sie jahrelang erfolgreich praktiziert hat, nun zur allgemeinen Maxime aller privaten Konzertveranstalter macht. Das ist nicht nur wirtschaftlich zu kurz gedacht, weil die unbekannten Talente von heute die Stars von morgen sind. Es muss doch im ureigensten Interesse von Veranstaltern liegen, interessante junge Künstlerinnen und Künstler so früh wie möglich zu entdecken und zu fördern! Menschlich und gesellschaftlich halte ich diese Ansicht für noch problematischer, weil sie einer ganzen Generation die Existenzberechtigung nimmt und dies mit den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise begründet.
Sie will, dass die Konzertagentur Adler nicht insolvent geht, ist das nicht ein berechtigtes Interesse?
Selbstverständlich. Das ist ihr berechtigtes Interesse. Das größere Interesse ist aber ein anderes. Wie überlebt die Kunst diese Krise, nicht nur finanziell, sondern substanziell? Kunst lebt von der Auseinandersetzung mit der Gegenwart, von Verschiedenheit, Vielstimmigkeit. Sie stirbt, wenn sie sich von der Gegenwart abspaltet und reinen Repräsentationscharakter annimmt. Wenn jetzt die junge Generation nicht mehr Teil dieser Zukunft sein darf, dann retten wir gar nichts. Dann brauchen wir uns lange Zeit nicht mehr über Relevanz zu unterhalten. Was mich an Musik interessiert, sind Menschen. Das sage ich nicht nur als Solist, der auf der Bühne steht, sondern auch als Hochschullehrer, als künstlerischer Leiter einer Akademie, als Förderer.
Wie geht es den Studierenden gerade an der Hochschule?
Es ist für mich sehr schwer, meine Studierenden zu motivieren, ohne Angst ihre eigene Stimme zu finden und nach Größe zu streben, wenn sie in der Gegenwart kleingemacht werden und sie sich hinten anstellen müssen. Jetzt kommen erst mal die Großen dran, dann vielleicht ihr? Junge Künstlerinnen und Künstler müssen sagen: Ich will! Gerade in einer Zeit, in der Fridays for Future die einzige Bewegung zu sein scheint, die den richtigen Ton für das Drama unserer Zeit findet, zeigt sich doch, dass wir auf diese Stimmen nicht verzichten können.
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Sie sagten eben, es gibt Konzertveranstalter, die anders mit den Jüngeren umgehen.
Es gibt viele Beispiele, lassen Sie mich zwei nennen: Burkhard Glashoff, Geschäftsführer der Konzertdirektion Goette, ist ein kommerzieller Veranstalter, der dennoch gesellschaftlich übergreifend denkt. Oder der Heidelberger Frühling unter Thorsten Schmidt, ein durch Sponsoringmittel und relativ geringe staatliche Zuschüsse finanziertes Festival, das sich ständig verändert, weiterentwickelt. Jahr für Jahr erfindet sich das Festival neu. Diese beiden und viele, viele andere leben Tag für Tag die Schönheit des Entdeckens.
Die gerade mit dem höchsten Musikpreis ausgezeichnete Bratscherin Tabea Zimmermann sagte der „FAZ“, sie habe Veranstalter erlebt, die sie aufforderten, die GEMA-Gebühren selber zu bezahlen, wenn sie Bartók spielen wolle. Sie hat eine „Stinkwut“. Haben Sie ähnliches erlebt?
Ich hatte zum Glück immer Partner, die so einen Unsinn nie fordern würden. Weil Bartók nicht Kasse bringt, können wir ihn nicht spielen? Das ist doch Publikums-Entmündigung.
Wie soll der Konzertbetrieb wieder hochgefahren werden, Herr Levit?
Kulturstaatsministerin Monika Grütters verwies die selbstständigen Künstler zunächst vor allem auf die Grundsicherung. Das hat viele verärgert, Sie auch?
Ja, schon, aber auch die Kulturstaatsministerin steht vor vollkommen neuen Herausforderungen. Sie ist, wie wir alle, vollkommen unvorbereitet in diese Situation geraten. Die für uns wirtschaftlich existenziellste, aber rechtlich schwierige Frage ist die der Ausfallhonorare. Es hat einige Wochen gedauert, aber jetzt scheint die Politik im Sinne der Künstler konkrete Lösungen zu finden. Anderes Beispiel: die schnellen Hilfsgelder in Berlin. Ich verneige mich vor Klaus Lederer von der Linkspartei. Die Arbeit des Kultursenators halte ich für vorbildlich, auch die seines Hamburger Kollegen Carsten Brosda von der SPD.
Olaf Scholz verspricht „massive“ Hilfe für die Kultur, die Kanzlerin sagte sie jetzt ebenfalls zu. Warme Worte oder echte Wertschätzung?
Wochenlang habe ich gelitten, über das Schweigen, über die Nichtkommunikation. Wochenlang wurde das Wort Kultur von Teilen der Bundesregierung nicht einmal in den Mund genommen. Ich kenne viele, die verzweifelt waren über dieses Schweigen, das uns den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Das vergisst man nicht so schnell. Und ja, das scheint sich gerade zu ändern. Hoffentlich.
Mit einem Ihrer Twitter-Konzerte wurden Sie ins Schloss Bellevue eingeladen. Werden Sie von der Politik vereinnahmt?
(lacht) Die Wahrscheinlichkeit, dass ausgerechnet ich everybody’s darling der deutschen Politik werde, ist sehr gering.
Im Moment sind Sie genau das.
Nur weil ich Wolfgang Kubicki schon länger nicht mehr beschimpft habe. Frank-Walter Steinmeier liebt die Musik, er weiß mehr über Jazz, als ich je wissen werde. Es war eine Ehre, vom Bundespräsidenten eingeladen zu werden, ich habe ihn als offenen, herzlichen, mitfühlenden Menschen erlebt. Deshalb höre ich doch nicht auf, die große Koalition zu kritisieren. Was bitte macht die deutsche Klimapolitik gerade beruflich? Die Autobranche auf Kosten der Zukunft retten, oder die Lufthansa, ohne klimapolitische Forderungen zu stellen? Hauptsache, der Status quo bleibt gesichert: Wollen wir wirklich nichts aus dieser Krise lernen?
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„Shut up and play“, davon halten Sie als Musiker nichts. Jetzt erst recht nicht?
Selbstverständlich! Wir werden die großen Fragen der Wirtschaft, der Gesellschaft neu verhandeln müssen. Was ist Kultur nach Corona? Sind wir Entertainment oder sind wir wichtig, im Sinne von: Erfahre ich Relevanz und haben wir Relevantes beizutragen? Das heißt eben nicht, dass wir nach der Krise einfach dort weitermachen, wo wir im März aufgehört haben. Kann es zum Beispiel das Tourneengeschäft einfach so geben wie vorher?
Igor Levit spielt nur noch dort, wohin er mit der Bahn fahren kann?
Wir sind global, Welttourneen werden auch künftig veranstaltet. Ich streite nicht für Regionalisierung, sondern für Fokussierung, Entzerrung, Verlangsamung. Ich hoffe, dass kein Festival, kein Konzerthaus aufgeben muss. Und wenn doch, müssen wir Künstlerinnen und Künstler Wiederaufbauarbeit leisten, gemeinsam mit der Politik und dem Publikum. Als Künstler kann ich nicht existieren ohne die Mitarbeiter in zweiter, dritter, vierter Reihe, in den Agenturen, Sekretariaten, Festivalteams. Auch über deren Wertschätzung müssen wir reden, über Tarife, faire Bezahlung.
Es geht weniger um Systemrelevanz als darum, was am System Kultur schon lange im Argen liegt?
Die Kulturwelt, das sind nicht nur wir Musiker, wir haben die Pflicht das zur Kenntnis zu nehmen. Die Perspektiven der Kulturwelt sind so divers wie sie selbst. Das unterscheidet uns zum Beispiel von der Autoindustrie. Die Nöte der Buchverlage oder der Bildhauer sind andere als die der Musiker. Es gibt nicht die eine Lösung, nicht die eine Stimme für alle. Wie geht es den Autorinnen und Autoren gerade, den Tänzern, der freien Szene? Habe ich mich bisher für die Belange der anderen ausreichend interessiert? Die Antwort ist ehrlicherweise nein.
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Und wie kann das Konzertleben wieder hochfahren? John Gilhooly, der Direktor der Londoner Wigmore Hall, sagte vor einigen Tagen, am liebsten wäre ihm eine klare Ansage seitens der Politik, dass es bis Ende des Jahres nichts mehr wird.
John Gilhoolys ganze DNA ist darauf ausgerichtet, Künstlerinnen und Künstlern von heute eine Bühne zu geben und die von übermorgen schon gestern entdeckt zu haben. Er ist auf Sponsoren und Ticketverkäufe angewiesen, aber ihm würde nie in den Sinn kommen, jetzt nur auf bekannte Namen zu setzen. Ich verstehe seinen Satz so: Die Wigmore Hall hat schlechte Bedingungen für Corona-Maßnahmen: Der Saal ist nicht groß, die Eingangssituation beengt. Da ist es kaum möglich, mit nur einem Drittel oder Viertel des Publikums zu kalkulieren. Voraussichtlich können alle Konzerthäuser noch lange nur ein reduziertes Publikum empfangen. Eine Herausforderung, die Flexibilität und Fantasie erfordert.
Was kann Streaming, was geht nur analog?
Die digitale Welt ist großartig. Sie ist so viel mehr als nur der Link zum Ticketverkauf. Aber Streaming kann nichts ersetzen. Mir fällt der Film „Demolition Man“ aus den Neunzigern ein, mit Wesley Snipes als Gangster und Silvester Stallone als Cop, die in der Zukunft landen. In einer Szene kommen Sandra Bullock und Stallone sich näher. Bullock findet, sie könnten jetzt Sex haben, verschwindet kurz, kommt mit zwei VR-Helmen zurück und erklärt ihm, dass die Lust da zigmal stärker getriggert wird als real. Nein, Nähe, Stimme, Klang, Musik, Miteinander, Freunde in echt hören, und plötzlich wiegen die Worte viel mehr – all das geht nicht digital.
Und wie funktioniert das Üben ins Leere, ohne Auftrittstermine?
In den ersten Wochen habe ich mir manchmal ebenfalls die Ansage gewünscht, ich dürfe jetzt eineinhalb Jahre nicht auftreten. Aber das wäre Absolutismus. Auch wenn es anstrengend ist: Ich will viele Meinungen, ich will Streit, Verwirrung, Unsicherheit. Alle Menschen reden jetzt im Konjunktiv: Corona ist ein Drama, für alle. Ich übe viel, aber ich kann Musik nicht machen, ohne zu teilen. Um es noch mal klar zu sagen, ich habe mit den Hauskonzerten nicht aufgehört, ich brauche nur eine Pause.
„Human being. Citizen. European. Pianist“: So lautet die Selbstbeschreibung von Igor Levit auf seiner Webseite. Der Musiker, Jahrgang 1987, ist einer der bedeutendsten Klavierspieler seiner Generation. In Nizhni Nowgorod geboren, kam er als Achtjähriger mit der Familie nach Hannover. Hier studierte er Klavier, u.a. bei Karl-Heinz Kämmerling und Matti Raekallio. Schon früh erhielt er etliche Preise, heute tritt er in den großen Konzertsälen der Welt auf . 2019 spielte er sämtliche Beethoven-Sonaten bei Sony Classical ein.
Levit twittert gern (er hat aktuell 86.000 Follower) und legt sich mit Rechtspopulisten an. Auch im Konzert macht er schon mal den Mund auf. Seit 2016 lebt Levit in Berlin Mitte.
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