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Der Pianist Igor Levit gibt derzeit jeden Abend Hauskonzerte auf Twitter.
© Henning Kaiser/dpa

Igor Levits Twitterkonzerte: Ihr seid nicht allein

Der Pianist Igor Levit filmt sich dabei, wie er Musik macht - und trifft auf ein begeistertes Netz-Publikum. Eindrücke seines gestrigen Twitter-Konzertes.

Igor Levit sitzt zu Hause am Klavier. Offensichtlich hat sein Wohnzimmer eine Fußbodenheizung, denn er trägt nur Socken. Weil wegen des Coronavirus aber überall Live-Veranstaltungen abgesagt werden, hat er per Twitter all seine Freunde eingeladen, ihm zuzuhören, wie er eines der Stücke durchspielt, die er sonst in den berühmtesten Konzerthäusern der Welt interpretiert.

Igor Levit ist ein Klassikstar, zum Beethoven-Jubiläum hat er jüngst eine viel beachtete Gesamtaufnahme aller 32 Klaviersonaten des Meisters herausgebracht. Aber er ist auch ein hellwacher Bürger, einer, der sich zu politischen und gesellschaftlichen Fragen äußert, in Talkshows ebenso wie in den sozialen Medien.

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Darum spielt er an diesem Abend Frederic Rzewskis Komposition „The peolpe united will never be defeated“, was frei auf Deutsch übersetzt bedeutet: Wenn die Menschen zusammenstehen, sind sie unbesiegbar.

Igor Levit will ein Zeichen der Solidarität setzen, und er will die von der Pandemie zur Vereinzelung gezwungenen Leute zusammenbringen. In seinem Wohnzimmer, via Internet. Die Bildqualität der Kamera, die er aufgestellt hat, ist bescheiden, die Tonqualität auch. Aber es kommt auf das Zeichen an: Wir können beieinander sein, auch wenn jeder in seiner eigenen Behausung verharrt. Wenn wir vor den Bildschirmen zusammenrücken.

Er spielt eine extrem komplexe Komposition

Um 19 Uhr beginnt das Hauskonzert, vermutlich aus Rücksicht auf die Nachbarn, denn auch Profimusiker müssen sich in den eigenen vier Wänden an Ruhezeiten halten. Fast 2000 Zuschauer sind zugeschaltet, während Igor Levit die extrem komplexe, haarsträubend schwere Komposition aus dem Jahr 1975 spielt.

Die Musik ist stachelig, durchkreuzt alle Hörgewohnheiten. Doch diejenigen, die den Livestream verfolgen, sind dem Pianisten extrem dankbar für seine Aktion. Auf der Website pscp.tv, die man von Twitter aus anklicken kann, strömen neben dem Bildschirmausschnitt, der den spielenden Levit zeigt, ununterbrochen bunte Herzchen in die Höhe. Und der Strom der Kommentare bricht nicht ab.

Vom Wedding bis Washington fliegen ihm die Herzen zu

„Dankeschön“ wird dem Pianisten aus allen Ecken der Erde zugerufen, vom Wedding bis nach Washington. Der eine grüßt aus Tel Aviv, die andere aus der Badewanne, es gibt Kyrillisch geschriebene Posts, und natürlich ist auch der Hashtag #GutMensch darunter. Ein später dazu gestoßener User fragt: „Was spielt er denn?“, ein Scherzkeks antwortet: „Klavier“.

Fast scheint es, als ginge es den Zuschauern gar nicht in allererster Linie darum, das zu machen, was man aus dem Konzertsaal gewohnt ist: nämlich der Darbietung konzentriert zuzuhören. Wonach es sie drängt ist zu zeigen, dass sie dabei sind - und zu sehen, dass es viele, viele andere es auch sind. The people united eben.

Anschließend twittert Igor Levit: "Ich danke Euch. Euch allen. So sehr. Herzschlag 200. Bis morgen." Jeden Tag um 19 Uhr wird er wieder auf Sendung gehen - so lange es gebraucht wird verspricht er.

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