Europäischer Monat der Fotografie in Berlin: Die Zärtlichkeit des Blicks
120 Orte, 500 Künstler: Der Europäische Monat der Fotografie in Berlin ist ein Panorama der Lichtbildkunst – vom Schnappschuss bis zur Langzeitstudie.
Da ist dieser Junge, vielleicht sechs Jahre alt, er lehnt sich mit ausgestreckten Armen an die hölzerne Hauswand, legt den Kopf in den Nacken und lässt sich und sein Bäuchlein von der Sonne bescheinen. Seine Kumpanen umzingeln ihn, aber in diesem Moment ist er versunken in sich und sein Sonnenlicht. Es wirkt, als würde ein großes Leid von ihm abfallen, ein Gewicht, das ihm noch leicht den Mund öffnete und so den Blick freilegt auf die Lücke, die seine Milchzähne ließen.
Den „moment décisif“, den entscheidenden Moment, nannte Henri-Cartier Bresson solche Augenblicke, wie ihn Nicholas Nixon in Kentucky erwischte und wie er bei C/O Berlin in einer Retrospektive zu sehen ist. Viele weitere solcher Momente verspricht der European Month of Photography (EMOP), der heute zum achten Mal in Berlin startet. Seit 2004 findet Deutschlands größtes Festival für Fotografie im Zwei-Jahres-Rhythmus statt – mit Festivalpartnern in Athen, Bratislava, Budapest, Ljubljana, Luxemburg, Paris und Wien. Bis zum 31. Oktober sind an 120 Orten die Werke von mehr als 500 Künstlern zu sehen, begleitet von 300 Veranstaltungen. Vertreten sind große Museen und Galerien genauso wie Fotoschulen, Projekträume und Botschaften.
Straßenfotografie und Plattencover
Auf ein vorgegebenes Thema oder ein zusammenfassendes Motto hat die Jury, die aus gut 150 Bewerbungen auszuwählen hatte, verzichtet. Und im Grunde ist das ja eine genauso nüchtern-pragmatische wie ehrliche Lösung. Jeder Fotointeressierte scheint also eingeladen, sich ein eigenes Programm zu kuratieren.
Was wird also im kommenden Monat zu sehen sein? Straßenfotografie der vor zehn Jahren entdeckten und jetzt schon hochgeschätzten Vivian Maier im Willy-Brandt-Haus etwa. Die ikonischen Plattencover der Londoner Grafikagentur Hipgnosis in der Browse Gallery. Und in der Deutschen Kinemathek kann sich jeder, der sich schon nach dem eisigen Berlinale-Wind sehnt, mit einer „Fotogeschichte der Berlinale“ einstimmen.
Zum Warmwerden im kuratorischen Denken und Sprechen dagegen eignen sich die Eröffnungstage des Festivals bei C/O Berlin im Amerika-Haus sicher ganz gut. Unter dem Motto „Licht und Zeit“ thematisieren sie bis Sonntag Wesen wie Zukunft der Fotografie und bieten Podiumsgespräche, Performances und Musik.
Wie die Fotografie ihre Bedingungen, Licht und Zeit, reflektiert und ins Bild rückt, zeigen auch die zwei Ausstellungen von C/O Berlin, die anlässlich des Foto-Monats starten. Unter dem Motto „Back to the Future“ versammelt das Ausstellungshaus gemeinsam mit dem Fotografiemuseum Amsterdam zeitgenössische Fotoarbeiten, die sich in ihren Techniken und Motiven mit der Fotografie des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen. Gegenübergestellt sind sie Bezugsgrößen wie Anna Atkins oder Karl Blossfeldt. Viele Arbeiten in der von Ann-Christin Bertrand und Kim Knoppers kuratierten Schau wenden sich vom reinen Abbild-Charakter der Fotografie ab und lenken dabei den Blick – teils spielerisch, teils sehr konzeptuell – auf die Materialität der Bilder und ihre Entstehung.
Kunst von der Halde
Witho Worms etwa fotografiert Abraumhalden in ganz Europa und fängt diese stummen Zeugen des Kohlezeitalters auf düster-braunen Breitbandbildern ein. Per Kohledruck bannt Worms sie auf eigens hergestelltes Papier, dessen Pigmente er aus der Kohle der jeweiligen Halden gewinnt. Die dargestellten Kohlekegel, auf die die Fotos verweisen, sind physisch präsent in ihrer Abbildung.
Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren ist dagegen das Thema von Nicolai Howalts „Light Break“, einem der beeindruckendsten Werke der Ausstellung. Howalt setzt sich darin mit der Lichttherapie des Nobelpreisträgers Niels Ryberg Finsen auseinander. Finsen kreierte spezielle Linsen und Filter, welche die für das menschliche Auge unsichtbare Ultraviolettstrahlung zur Behandlung von Hautkrankheiten bündelten.
Howalt setzte diese Linsen nun auf seine Kamera, richtete sie direkt auf die Sonne und belichtete so das Fotopapier mit UV-Strahlen. Je nach verwendeten Filtern und Wetterbedingungen umstrahlt in diesen vielen Variationen das sonst unsichtbare Licht den schwarzen Sonnenkreis. Mal zart türkis, dann wieder ausgefranst violett.
Von der anonymen Öffentlichkeit in die Privatsphäre
Dass die Bedeutung des Lichts und das Vergehen der Zeit sich nicht nur in elaborierter Konzeptfotografie fassen lassen, sondern unmittelbar in den Körper des Menschen einschreiben und an ihm ablesbar werden, zeigt das Werk von Nicholas Nixon, dem C/O Berlin in Zusammenarbeit mit der Fundación MAPFRE aus Madrid eine Retrospektive widmet.
Die Entwicklung von Nixons Werk gleicht einem langen stetigen Zoom und führt von der anonymen Öffentlichkeit der Großstadt in die intimsten Räume des Privatlebens. In den Siebzigern kletterte er auf Hügel und Häuserdächer und fotografierte menschenleere Stadtansichten in Boston und New York. Dann stieg er mit seiner Großformatkamera auf die Erde nieder, näherte sich den Menschen, deren Häuser er zuvor aus der Vogelperspektive fotografierte, und porträtierte die Bewohner der Armenviertel der Südstaaten auf der Schwelle ihrer Veranden. Es sind vielschichtige Tableaus, deren Personal der Zufall des Alltags arrangiert zu haben scheint. Mit den Geburten seiner Kinder öffnet sich sein Werk dann den Momenten des Familienlebens und kommt dem menschlichen Körper immer näher, um sich in Detailaufnahmen in die Poren der Haut und die Struktur der Haare zu vergucken.
Neu auf die Welt sehen
Nixons Werk zeichnet eine schier übermenschliche Rücksicht aus, die seinen Subjekten auch in den verletzlichsten Momenten mit einer solchen Zärtlichkeit begegnet, dass sie den Angeblickten Größe verleiht. Leben und Tod sind hier gleichermaßen präsent. Zu seinen eindringlichsten Werken gehört die Serie „People with Aids“, für die er Ende der Achtziger HIV-Kranke mit seiner Kamera begleitete, bis sie nicht mehr lebten. So wie Tom Moran. Einmal wendet er der Kamera seinen Rücken zu und lehnt sich sitzend zum Fenster. Seine rechte, zur Außenwelt gestreckte Hand ist so unscharf, dass es wirkt, als würde sich sein Körper bereits auflösen und in eine andere Welt übergehen. Doch genauso behutsam hat Nixon auch den Eintritt ins Leben festgehalten, wie auf den Aufnahmen seiner Ehefrau Bebe mit der neugeborenen Tochter Clementine.
„The Brown Sisters“ schließlich, Nixons wohl bekannteste Serie, ist zugleich eine Studie des Wandels und ein Zeugnis der Kontinuität: Seit mehr als vierzig Jahren fotografiert er jedes Jahr seine Ehefrau Bebe und ihre drei Schwestern Heather, Mimi und Laurie. Die Orte wechseln, die Jahreszeiten auch, mal stehen die Schwestern im sommerlichen Sonnenschein, dann wieder fällt mattes Herbstlicht auf den Bildern. Doch immer, ja, immer, sieht man, wenn man die Aufnahmen abschreitet, diese durchdringenden Blicke der vier Frauen. Mit solchen Blicken müsste man auf die Welt sehen können – und all die Fotos, die sie zeigen.
Alle Veranstaltungen und das Programm der Opening Days unter: www.emop-berlin.eu/de/
Jonas Lages
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