Porträt: Mit kahl rasiertem Schädel
Der legendäre Fotograf Henri Cartier-Bresson hatte mehrere Leben - Ein Nachtrag zum 100. Geburtstag.
Im Sommer 1943 grub ein Franzose seine Leica aus dem Ackerboden, die er zu Beginn der Mobilmachung gegen Deutschland in den Vogesen verscharrt hatte. Dieser Mann ist Henri Cartier-Bresson, der Meister der Fotoreportage des 20. Jahrhunderts. Der 35-Jährige hatte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Leben hinter sich, das eines Malers, das eines surrealistischen Fotografen und zuletzt das des Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiters in Deutschland. War Letzteres nur eine Episode im Dasein des universellen Künstlers, des Abenteurers, der in Afrika um ein Haar das Schwarzwasserfieber nicht überlebt hätte? Wohl kaum. Seinem Biografen Pierre Assouline zufolge teilte Cartier die Welt ein in eine Zeit vor und nach der deutschen Gefangenschaft.
An solche Schicksale erinnert eine Bronzetafel neben dem Haupteingang des Zentrums für Kunst- und Medientechnologie (ZKM), einer ehemaligen Munitionsfabrik in Karlsruhe. Womöglich auch an das von Cartier-Bresson, der in einer „Bombenfabrik in Karlsruhe“ gearbeitet haben soll. Die Inschrift der Tafel gilt den 17.000 Zwangsarbeitern, die zwischen 1939 und 1945 in den Rüstungsfabriken der Stadt den Nachschub für den wahnwitzigen Krieg Hitlers sicherstellten, denn bis zu 40 Prozent der Arbeitskräfte waren abgezogen für den Dienst an der Front. Auch wenn Assoulines Angaben nicht immer völlig korrekt sind, steht außer Zweifel, dass der berühmte Fotograf im Badischen interniert war und in Karlsruhe zum Arbeitsdienst eingesetzt war.
Laut Assouline arbeitete Cartier-Bresson von 1940 bis 1943 als Kriegsgefangener in rund 30 verschiedenen Tätigkeiten zwischen Ludwigsburg und Heidelberg. Es existiert sogar ein Foto, das den KG 845 in kurzen Hosen mit übergeschlagenen Beinen auf einem Schemel zeigt. Den Schädel hatte sich Cartier-Bresson kahl rasiert, angeblich um seine Bewacher zu provozieren. Denn die Nationalsozialisten hatten eine Hierarchisierung der „Arbeitsvölker“ eingeführt, an deren unterster Stufe die durch die Rasur gekennzeichneten „Ostvölker“ standen.
1942 existierten in Karlsruhe 41 Lager, in denen zu diesem Zeitpunkt 4157 Zwangsarbeiter untergebracht waren. Die meisten waren in der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik (DWM) – heute der Hallenbau des ZKM – beschäftigt, einer der größten Waffenproduktionsstätten Deutschlands. Wahrscheinlich gehörte Cartier-Bresson dazu; es wäre aber genauso möglich, dass der Franzose den Genschow-Werken in der Munitionsfabrik Wolfahrtsweier zugeteilt war, meint Jürgen Schuhladen-Krämer vom Institut für Stadtgeschichte, der dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte für Karlsruhe aufgearbeitet hat. Die von den Alliierten nach dem Krieg angelegte „Fremdarbeiterkartei“ verzeichnet die Kriegsgefangenen nicht.
Damals befand sich Cartier-Bresson auf dem besten Wege zum Fotografen. Aufsehen hatten seine Bilder von den Krönungsfeierlichkeiten Georg VI. in London erregt, die er 1937 für die kommunistische Zeitung „Ce soir“ aufnahm. Anstatt den Pomp der Zeremonie in Szene zu setzen, dokumentierte Cartier-Bresson die erschöpften Schaulustigen am Rande der Veranstaltung. Mit seinen Fotografien und seinem Film über die Lazarette der spanischen Widerstandskämpfer hatte der am 22. August 1908 als Sohn eines Textilfabrikanten geborene Franzose wie fast alle Intellektuellen für die Linke Partei ergriffen. Ein Freund, der Maler Avigdor Arikha, erklärte einmal in einem Interview mit Sabine Mann, dass Cartier-Bresson immer „links“ sein wollte, sein Charakter aber „grand bourgois“ gewesen sei.
Drei Fluchtversuche aus deutscher Gefangenschaft
Vielleicht hatte ihm aber gerade diese Mischung zwischen Stolz und geistiger Unabhängigkeit die Kraft zu drei Fluchtversuchen aus der deutschen Kriegsgefangenschaft gegeben, von denen der dritte – von Karlsruhe aus – erfolgreich war. Am 10. Februar 1943 überschritt er mit seinem Kameraden Claude Lefranc die Grenze am Moselkanal und gelangte bis nach Metz. Zuvor hatten sich die Flüchtlinge über einen elsässischen SS-Mann Bahnfahrkarten und falsche Ausweispapiere beschafft. Die schon mehrmals erduldeten Strafen, Einzelhaft und Schwerstarbeit, blieben ihm erspart.
In der Zeit bis Kriegsende entstanden Cartiers berühmte Porträts des alternden Matisse, von Bonnard und Rouault. Er dokumentierte als Fotograf das Ende des Krieges und drehte einen Film über die zurückkehrenden Kriegsgefangenen. In diese Phase des Neuanfangs platzte eine Nachricht aus New York: Nancy Newhall von der Foto-Abteilung des Museum of Modern Art, war im Begriff, Cartier-Bresson eine posthume Retrospektive zu widmen, weil sie glaubte, er sei im Krieg ums Leben gekommen. Im Laufe ihrer Recherchen erfuhr sie, dass der Fotograf lebte. Aus der geplanten Gedenkausstellung wurde die grandiose Werkschau von 1947, die er nun selbst mit vorbereiten konnte. Cartier-Bresson schiffte sich 1946 nach Übersee ein, wo er über ein Jahr blieb. 1947 gründete er in New York mit Robert Capa, David Seymour und anderen die genossenschaftlich organisierte, legendäre Agentur „Magnum Photos“ und lieferte Foto-Reportagen vor allem aus Asien.
Viele Autoren rühmten die harmonischen, bildhaften Kompositionen der Momentaufnahmen von Cartier-Bresson. Es sind jedoch die Dissonanzen, die sein Werk zu etwas Besonderem machen. So fotografierte der Franzose die Skyline von Manhattan mit halb verfallenen Docks im Vordergrund oder in einer New Yorker Häuserspalte einen Mann, der wie gebannt einer Katze gegenübersitzt. Letztendlich waren es aber die historischen Umbrüche, das Ende des Zweiten Weltkriegs oder die Geburt des kommunistischen China – und womöglich die Barbarei des Lagers –, die den Künstler Cartier-Bresson für ein paar Jahrzehnte in einen engagierten Fotoreporter verwandelten. Danach wurde der Mann mit der Leica wieder Maler und Zeichner, bis er 2004 im Alter von 94 Jahren starb.
Carmela Thiele
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