Superhelden wider willen: Die Wut, die uns zusteht
Frank Schmolkes spektakuläre Adaption des Netflix-Films „Freaks“ ist eines der intensivsten Comic-Erlebnisse dieses Jahres.
Ein ernstgemeinter Superhelden-Comic aus Deutschland? Davon gibt es nicht viele (und noch weniger gelungene) und natürlich ist auch „Freaks“ (Edition Moderne, 256 S., 28 €), wie der Name schon sagt, alles andere als die klassische Mär vom Cape-tragenden Weltenretter. Vielmehr hat Frank Schmolke („Nachts im Paradies“) mit seiner Adaption des gleichnamigen Netflix-Films einen grellen Noir-Thriller geschaffen, bei dem es keineswegs um den Kampf zwischen Gut und Böse geht – denn wirklich „gut“ ist hier keiner.
Die Wut bricht sich Bahn
Die junge Mutter Wendy bewältigt ihren Alltag mehr schlecht als recht: Sie schuftet in einem schäbigen Burger-Grill, weiß nicht, wie sie den nächsten Kredit bezahlen soll, wird von Alpträumen geplagt und muss ständig Medikamente nehmen.
Nach einer Begegnung mit einem mysteriösen Obdachlosen ändert sich dies: Wendy setzt die Psychopharmaka ab, die sie seit ihrer Kindheit nimmt, und kommt auf einmal wieder an ihre unterdrückten Emotionen heran, vor allem an eine: Wut. Doch dabei bleibt es nicht: Als sie nachts überfallen wird, entwickelt Wendy übermenschliche Kräfte und zerfetzt ihren Angreifer bei lebendigem Leib.
Nach dem ersten Schock entwickelt Wendy durchaus Gefallen an ihrer neuen Superstärke, mit der sie frühere Alltagsprobleme im Handumdrehen aus dem Weg räumt. Sie empfiehlt ihrem Arbeitskollegen Elmar, der das gleiche Medikament nimmt, es ebenfalls abzusetzen.
Damit beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen: Während sich Wendy immer mehr von ihrer Familie entfremdet und von der Polizei und der nebulösen Therapeutin Dr. Stern verfolgt wird, beginnt der frustrierte Elmar einen blinden Rachefeldzug und geht dabei über Leichen.
Weit mehr als „der Comic zum Film“
Das Motiv der übernatürlich talentierten Außenseiter, die wegen ihrer Kräfte gefürchtet werden, kennt man zur Genüge von X-Men und Co. Auch die Diskussion darum, inwiefern Psychopharmaka Menschen helfen oder ihre wahre Persönlichkeit unterdrücken, damit die Normgesellschaft nicht von ihrer Andersartigkeit gestört wird, ist nicht neu. Schmolke gibt beiden Motiven jedoch seinen ganz eigenen Anstrich und setzt sie absolut packend in Szene.
Wer den von Drehbuchautor Marc O. Seng („Dark“) geschaffenen Netflix-Film „Freaks – Du bist eine von uns“ gesehen hat, wird schnell feststellen, dass Schmolkes Adaption weit mehr ist als „der Comic zum Film“. Seng hatte von Beginn an geplant, „Freaks“ auch als Comic zu veröffentlichen: „Als mir [Produzent] Florian Schneider dann eines Tages Franks ‚Nachts im Paradies‘ mitgebracht hat, waren wir uns sofort einig: Frank ist genau der Richtige für unsere Freaks“, sagt Seng.
Punk-Superheldin mit Blitznarben im Gesicht
Schmolke selbst wurde lediglich das Drehbuch vorgelegt; er sollte seine ganz eigene Fassung der Story entwickeln, ohne die Serie oder die Schauspieler je gesehen zu haben. Und das hat er: Der Comic kommt wesentlich düsterer, brutaler und sexueller daher, und die Hauptfiguren sind um einiges ungestylter. Außerdem fügt Schmolke dem ganzen neben neuen Charakteren auch etwas Mystisches hinzu: So verwandelt sich Wendy in manchen Momenten in eine Inkarnation der indischen Todesgöttin Kali.
Was den Comic jedoch am meisten von der Serie abhebt, ist der optische Stil: Wie in „Die Nacht im Paradies“ entwickelt Schmolke im Laufe der Geschichte eine immer dichter werdende Noir-Atmosphäre mit einem süchtig machenden Erzählrhythmus. Die Zeichnungen sind wie ein hypnotischer Sog und gewinnen stellenweise expressionistische Züge. Insbesondere Wendys Metamorphose von der abgekämpften Working-Class-Mutter zu einer zornigen Punk-Superheldin mit Blitznarben im Gesicht ist absolut eindrucksvoll.
„Ich kann mit Marvel oder DC nichts anfangen“
„Ich hatte, was Optik und Adaption des Drehbuchs anging, alle Freiheiten“, sagt Schmolke. „Das war Segen und Fluch zugleich, da ich total ins Fabulieren geraten bin.“ Er habe sich zügeln müssen, damit der Comic nicht 500 Seiten dick werde. Das Erstaunliche dabei: Schmolke ist eigentlich gar kein Superhelden-Fan: „Mich nervt das Genre. Es ist für mich das Wiederkäuen der immer gleichen Figuren und Handlungen“, sagt er. „Ich kann nichts mit Marvel oder DC anfangen. Für mich hat es nichts Echtes.“
So finden sich auch immer wieder ironische Seitenhiebe auf das Genre, etwa als der selbsterklärte Superhelden-Experte Elmar Wendy erklärt: „Man braucht einen Namen, ein Kostüm und einen Instagram-Account, auf dem man dann postet, was das Zeug hält.“ Zudem sind sowohl Wendy als auch Elmar ausgemachte Antihelden, bei denen man sich nie ganz sicher ist, ob sie eher Opfer einer pharmakologischen Verschwörung sind, oder nicht eben doch gefährliche „Freaks“, vor denen die Menschheit beschützt werden muss.
Heiliger Zorn
Der Comic ist, wie alle Superhelden-Geschichten, eine Fabel über Außenseiter und ihren Platz in der Gesellschaft. Vor allem aber ist er eine Parabel über die Wut, die uns zusteht: Weder Wendy noch Elmar handeln aus reiner Zerstörungslust, es gibt immer reale Verursacher ihres Unmuts. Ihr Aufbegehren ist die Reaktion auf Machtverhältnisse, auf die sie keinen Einfluss haben; die Hypothek der Bank, der ignorante Vater, die Therapeutin, die sie ruhigstellt.
„Das ist der Preis den du zahlst, für ein normales Leben“, sagt Dr. Stern zu Wendy. Aber was ist das für eine Normalität, in der die Familie jederzeit aus der Wohnung geschmissen werden kann, in der das eigene Kind ständig gemobbt wird und in der man von tyrannischen Vorgesetzten klein gehalten wird? Ist man ein Freak, wenn einem dieser Zustand nicht schmeckt? Eine Welt, die ständig Wut verursacht, nur um sie gleich wieder zu unterdrücken, darf sich nicht wundern, wenn sie Monster gebiert.
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